Teil
2 (FAQ)
2. Kapitel - Häufig
gestellte Fragen zum revolutionären 1.Mai
Die folgende kleine
FAQ (Frequently Asked Questions) samt historischem Anhang zum revolutionären
1.Mai wird hoffentlich nicht unbeachtet im Interim-Ordner verstauben...
vielleicht findet sich ja jemand, der alles ins Internetz stellt, etwa
bei "nadir"!? [Anmerkung LÖPA: ist hiermit geschehen...]
Die Fragen
1. Was ist der "revolutionäre 1.Mai"
in Berlin?
2. Wie entstand der revolutionäre 1.Mai in Berlin
überhaupt?
3. Ist der revolutionäre 1.Mai in Berlin nicht
längst ein leeres Ritual geworden?
4. Wer ist am 1.Mai in Berlin auf der Straße?
5. Wer macht und wer will den Krawall am 1.Mai?
6. Was für politische Konflikte gab es um den revolutionären
1.Mai in Berlin bisher?
7. Welche Rolle spielt die antifaschistische Mobilisierung
im revolutionären 1.Mai in Berlin?
8. Wie hat sich der Charakter des revolutionären
1.Mai in Berlin entwickelt über die Jahre?
1. Was ist der
"revolutionäre 1.Mai" in Berlin?
Der revolutionäre 1.Mai in Berlin ist die einzige öffentliche
basisdemokratische Struktur der radikalen Linken in der Stadt. Denn an
diesem Tag haben Menschen die Möglichkeit, auf verschiedene Weise
unüberhörbar ihre Stimme abzugeben: Für die Kritik von
links an den staatsloyalen Gewerkschaften. Für das Feiern großer,
lauter und wenig kommerz-dominierter Feste. Für grundsätzliche
Opposition gegen das herrschende System. Für Rebellion gegen autoritäre
Strukturen - wobei manche damit Staat und Polizeiapparat meinen, andere
vielleicht ihre Eltern oder den grauen Arbeitsalltag, und wieder andere
den Mangel an Freibier und die ständige Unterdrückung durch
Buswartehäuschen und Ampelanlagen. Mal ganz im Ernst: Der revolutionäre
1.Mai in Berlin gehört niemandem richtig, und wenn manche versuchen,
ihm ihren politischen Stempel aufzudrücken, sind immer drei andere
Gruppen da, es ihnen streitig zu machen. Aktuell ist es schick bei Altautonomen,
sich über die oberflächlichen Mai-Aufrufe der AAB zu mokieren,
dabei hat die AAB lediglich (sinngemäß) abgeschrieben, was
vor zehn Jahren in den Aufrufen der Altautonomen stand. Der Ursprung der
revolutionären 1.Mai-Demo (siehe Frage 2) zeigt, dass das Dilemma
von politischer "Füllung" oder "Vereinnahmung"
des Tages (je nach Sichtweise) von Anfang an, also von 1987 an, vorhanden
war. Es kann deshalb keine kurze Erklärung geben, was der revolutionäre
1.Mai in Berlin ist. Er bietet Raum für bestenfalls anpolitisierte
pubertäre Abenteuerurlauber ebenso wie für esoterische linke
Grüne oder linksradikale Militante.
Dass es bis heute
gelungen ist, ihn gegen alle Versuche der Entpolitisierung, Zähmung
und Zerschlagung als linkes, radikales, rebellisches Symbol zu behaupten,
ist durchaus ein Erfolg auch der politischen Gruppen, die sich immer wieder
die Mühe der Fest- und Demovorbereitung machen. Aber auch der Tausenden,
von denen ich nicht zu behaupten wage, ob sie den Rest des Jahres mehr
mit unspektakulärer politischer Kleinarbeit oder mehr mit Alltagsmaloche
und Feierabend verbringen.
2. Wie entstand
der revolutionäre 1.Mai in Berlin überhaupt?
Die Randale in Kreuzberg am 1.Mai 1987 war etwas Neues, Unbekanntes für
alle Beteiligten, warum auch immer sie daran teilnahmen: Ein euphorisches
Machtgefühl des Sieges gegen sonst übermächtige Feinde
(den Bullenapparat), ermöglicht durch ein spontanes massenhaftes
Bündnis von vielen Menschen, die sonst nie zusammenkamen, sondern
im Kiez nebeneinander lebten. Die Kraft, die darin spürbar wurde,
hatte durchaus negative Nebenerscheinungen und war ganz gewiss nicht Spiegelbild
der Stärke revolutionärer autonomer Strukturen. Aber die Melodie
der nächtlichen Trommelkonzerte war doch eine von Befreiung, antiautoritärer
Rebellion und "Völkerverständigung" (ganz im Gegensatz
zum aufgepeitschten Spießer-Mob, der 1992 in Rostock sein "Befreiungserlebnis"
im rassistischen Pogrom hatte). Linksradikale hatten den Riot begonnen
und eskaliert, fühlten sich zumindest teilweise für den Verlauf
verantwortlich und wollten auch danach das politische Feld weiter besetzt
halten. Daraus entstand die Idee, die am 1.Mai 1987 gespürte Kraft
zur 'Stärkung der radikalen Linken zu nutzen und gleichzeitig zu
politisieren. So entstand die revolutionäre 1.Mai-Demo 1988.
Das darf nicht darüber
hinwegtäuschen, dass der Riot vom 1.Mai 1987 kaum vergleichbar war
mit anderen militanten Großereignissen, eben weil er nicht allein
den militanten Linksradikalen gehörte, sondern viel mehr Menschen.
Und etliche dieser Menschen sind weiterhin da, an jedem 1.Mai, und nehmen
sich ihren Teil des Tages.
3. Ist der revolutionäre
1.Mai in Berlin nicht längst ein leeres Ritual geworden?
Im Prinzip ja, sagt Radio Eriwan, aber was ist schon ein Prinzip? Ein
Teil der Antwort liegt im Blick der oder des Fragenden bereits enthalten.
Der Vorwurf des "Rituals" wurde z.B. in der "taz"
bereits am 1.Mai 1988 erhoben (und seitdem ritualhaft jedes Jahr)! Er
ist vielfach ein rhetorisches Mittel gegen den politischen Gehalt des
revolutionären 1.Mai - es ist eine altbewährte Methode, dort,
wo politische Argumentation vermieden werden soll, auszuweichen auf formale
Kritik: "Wiederholungszwang", "alkoholisierte Krawallmacher",
"unpolitische Jugendliche" (schon Martin Luther hetzte ja vor
fast 500 Jahren "wider die räuberischen und mörderischen
Rotten der Bauern", der revolutionären, versteht sich).
Andererseits sind
tatsächlich viele Ereignisse ritualisiert, mittlerweile schon beginnend
mit der Walpurgisnacht am 30.April in Prenzlauer Berg. Wie schon erwähnt,
sagt der Innensenator jedes Jahr fast wortgleich: Das Polizeikonzept war
erfolgreich, der 1.Mai verlief weniger schlimm als im Vorjahr, aber gegen
die Randalierer muß endlich etwas unternommen werden. Und die DemovorbereiterInnen
wiederholen sich genauso: Die Bullen haben provoziert, die Demo war stark
und größer als letztes Jahr.
Beide Seiten sagen
stets nur zum Teil die Wahrheit. Es ist eben auch völlig klar, dass
es am 1.Mai Leute gibt, die die Randale wollen, und andere, die sie nicht
wollen, und das auf beiden Seiten der Barrikaden.
Was die linke Kritik
am "Ritual 1.Mai" angeht, dazu steht weiter oben im Text einiges.
Hier nur noch einmal soviel: Wie sehr etwas ein leeres Ritual ist, hängt
von allen Beteiligten ab. Alle können etwas dagegen unternehmen,
und das nicht nur durch einfaches Wegbleiben.
4. Wer ist beim
revolutionären 1.Mai in Berlin auf der Straße?
Alle nur vorstellbaren Leute: Kritische GewerkschafterInnen vom DGB-Auflauf.
Techno-Freaks beim morgendlichen Chill-Out. FreundInnen der kurdischen
PKK. Dänische und baskische Demo-TouristInnen. Jugendgangs aus Reinickendorf.
Altgediente linksradikale UndogmatInnen. Jugendantifa. Türkische
Kids aus dem Kiez. Linke Grüne. Kommunistische Kleinparteimitglieder/Maoisten-Trotzkisten-Leninisten
(KKM/MTL). Punks. Desorientierte Hooligans. Schwulesbische Polittunten.
Krawalltouristen aus Süddeutschland. Zufällig anwesende AnwohnerInnen.
Und natürlich verwirrte Polizeieinheiten aus Sachsen-Anhalt.
Wolltest du vielleicht
eigentlich fragen: Wer bestimmt das Geschehen auf der Straße bei
Demo und Randale?
Die großen
Demos in Berlin werden meistens politisch von den 2000-3000 Leuten an
der Spitze durch Parolen und Transparente repräsentiert, während
- falls vorhanden - die Tausenden dahinter vor allem sich selbst mitgebracht
haben und wenig beitragen zur Außenwirkung. Von den 15.000, die
jährlich am 1.Mai auf der Demo sind, kennen vermutlich 80% weder
das Leittransparent noch den Aufruf. Diejenigen, die die Demos vorbereiten,
sollten aber daraus nicht den Trugschluss ziehen, zehntausend Leute liefen
zustimmend hinter ihren Parolen her. Überwiegender Konsens ist zwar
eine undogmatisch-linke Haltung, was aber viele nicht daran hindert, auch
unter/hinter Transparenten strenger ML-Gruppen zu gehen, ohne sich darüber
Gedanken zu machen. Viele nehmen auch an der Demo teil, ohne irgendeine
Vorstellung davon zu haben, was eine Demo ist oder sein sollte. Sie folgen
den Menschenmassen, weil sie dahin wollen, wo es was zu erleben gibt.
Wenn es während der Demo zu Auseinandersetzungen mit Bullen kommt,
sind diese Leute leider diejenigen, die am meisten Panik verbreiten, weil
sie die Flucht ergreifen, sobald sie irgendwo jemand rennen sehen.
Wenn es abends knallt
im Kiez, ändert sich die Zusammensetzung. Die noch existierenden
autonomen Gruppen sind in der Anfangsphase aktiv, setzen sich mit den
Bullen auseinander (meist ohne größere eigene Verluste) und
wissen, wann sie aufhören müssen. Die jüngeren (Männer),
die auf Abenteuersuche sind, machen weiter, viele von ihnen werden abgegriffen
wegen Landfriedensbruch. Später sind es vor allem Betrunkene, oft
Leute aus dem Kiez, die auf den Straßen bleiben und darunter zu
leiden haben, dass die Bullen inzwischen massiv aufgefahren sind, alles
kontrollieren und sich austoben.
5. Wer macht und
wer will den Krawall am 1.Mai?
Es gibt immer wieder hübsche Verschwörungstheorien hüben
wie drüben. Ein Highlight des revolutionären 1.Mai 2000 war
die Behauptung des Landesschutzpolizeidirektors Piestert, der Beginn der
Auseinandersetzungen seit "über Funk gesteuert" gewesen
von den bösen Randalierern. Auf der anderen Seite verbreitete selbst
die manchmal als seriös geltende "Interim" nach dem 1.Mai
1997 die hanebüchene Behauptung, Zivis hätten durch Steinwürfe
auf einen Wasserwerfer Krawall angezettelt. Und in linksliberalen Kreisen
werden gern "bezahlte Provokateure" beim Steinesschmeißen
gewittert. Für die Sicherheitsstaats-Strategen bietet ein Krawall
natürlich politische Entfaltungsmöglichkeiten - Paradebeispiel
dafür ist der 1.Mai 1989; einiges spricht dafür, dass die damalige
Polizeiführung des Einsatzes, die aus CDU- Hardlinern bestand, dem
neuen SPD-Innensenator Pätzold tüchtig vor die Haustür
scheißen wollte und deswegen die Lage eskalieren ließ. So
etwas sollte aber besser nicht überbewertet werden, denn ein solches
Spiel mit dem Feuer kommt in Agentenromanen wohl doch häufiger vor
als in deutschen Beamtenzimmern. Wenn etwa der Innensenator so scharf
auf Randale wäre, um seine Bannmeile durchzusetzen, dann hätte
er zum 1.Mai 2000 bloß die Demo-Route durch die Friedrichstraße
genehmigen müssen - massenhaft klirrende Scheiben hätte es mit
Sicherheit gegeben.
Randale bedeutet
immer auch Parteiengezänk, Profilierungen und Abwatschungen, die
Gefahr von Bauernopfern; es gibt Schäden zu bezahlen; Morgenpost
und Polizeigewerkschaft werden hysterisch wegen drei Bullen mit blauen
Flecken am Fuß; der gute Ruf der Stadt leidet, Hassemers "Partner
für Berlin" kriegt vermutlich besorgte Anrufe, ob das Hotel
Adlon denn noch sicher sei; und jetzt geben auch noch die angereisten
Bonner Schlafmützen ihren innenpolitischen Senf dazu. Nichts davon
können Innensenator und Polizeipräsident sich wünschen.
Wo die politische
Führung Randale zwar ausnutzt und auch mal zu beeinflussen versucht,
haben die unteren Büttel, vor allem die Bullen der Bereitschaftspolizei,
ganz simple Gründe fürs Randalieren: Rache, angestaute Aggression,
Karriere. Ja, wirklich, Prügeleinheiten wie die 23. und 24. Hundertschaft
sind Karrieresprungbretter innerhalb der Polizei, trotz allem Gemecker
in Medien und von Politikern. Die Jungs, die immer an den Brennpunkten
sind... als ihnen nach den Todesschüssen auf KurdInnen am israelischen
Konsulat im Februar 1999 psychologische Nachbetreuung angeboten wurde,
lachten sie angeblich, weil sie doch so harte coole Typen sind...
Und die andere, unsere
Seite: Es gibt viele gute Gründe, gegen die 1.Mai-Randale zu sein.
Weil sie von den Sicherheitsstaats-Politikern politisch gegen uns gewendet
werden kann. Weil die Kräfteverhältnisse just an diesem Tag
inzwischen so ungünstig sind für uns, dass es sich mehr um Polizeimanöver
handelt (Polizeipräsident Saberschinsky nach dem 1.Mai 1997: Durch
jahrelange Erfahrung mit den "Störern" sei die Berliner
Polizei "inzwischen eine der besttrainierten Truppen Europas").
Weil ein Großteil der Randale von besoffenen jungen Männern
gemacht wird, die politisch nicht viel mehr hinkriegen, als ihr Gesicht
in die Kamera zu halten und "voll geil hier ey" zu sagen. Weil
unter den folgenden Bullenangriffen viele Unbeteiligte bzw. Schaulustige
zu leiden haben. Weil die Randale kein ausgesprochenes politischen Ziel
außer günstigenfalls "gegen die Bullen" vermittelt.
All das sind Gegenargumente, die auch Linksradikale vorbringen können,
ohne sich der bürgerlich-liberalen Abweichung verdächtig zu
machen (außer vielleicht bei den Kartoffel-Maoisten).
Es gibt aber auch
gute Gründe für militante Aktionen: Dem gewalttätigen Staatsapparat
nicht die Straße überlassen. Die Schikanen gegen die Demos
nicht hinnehmen. Militante Angriffe als mögliche Aktionsform behaupten.
Den vielen Menschen, die ihrer rebellischen Wut Ausdruck verleihen mochten,
nicht politisch-sozialarbeiterisch (lampenputzerisch, wurde Erich Mühsam
vielleicht sagen) daherkommen. Und es gibt weitere Gründe, die ich
vielleicht weniger gut finde, die aber etlichen Leuten ausreichen. Dazu
gehört: Alles hier kotzt mich an und ist mir egal, nach uns die Sintflut.
Rache für irgendetwas nehmen, vielleicht für verletztes Gerechtigkeitsempfinden,
vielleicht für Beziehungsfrust. Abenteuerlust und Angeberei. Voll
geil hier ey. Usw.
So gibt es insgesamt mehr als genug Gründe, eine Randale auch ohne
"bezahlte Provokateure", "eskalierende Bullentaktik"
oder "funkgesteuerte Chaoten" zu erklären.
Die Wirklichkeit ist nun mal oft viel einfacher (und langweiliger) als
die Theorie.
6. Was für
politische Konflikte gab es um den revolutionären 1.Mai in Berlin
bisher?
Vier Hauptkonflikte des letzten dreizehn Jahre lassen sich beschreiben:
Erstens der
zwischen Staatsmacht und linksradikaler Szene.
Zweitens innerhalb der linken Szene zwischen marxistisch-leninistischen
und undogmatischen Gruppen.
Drittens innerhalb der linken Szene zwischen Gruppen aus Ost und
West.
Viertens der Versuch von Nazis, den 1.Mai als Terrain für
sich zu besetzen.
Der Konflikt mit
der Staatsmacht ist konstant und hat sich über die Jahre nur
wenig verändert. Bei den ersten vier Demos (1988-1991) gab es eine
klare Trennung zwischen Demo und abendlicher Randale, die Demos selbst
verliefen vergleichsweise stressfrei (1989 nahm die Demo allerdings zeitweise
heftige offensiv-militante Formen an). 1992/93 verfolgte die Polizei unter
Innensenator Heckelmann ein Konzept des massiven Einsatzes mit erhofftem
Abschreckungseffekt, so dass die 93er Demo nicht bis zum Ende durchgeführt
werden konnte. Nach der Demo-Pause 1994/95 ging es dann 1996 unter Innensenator
Schönbohm erst einmal etwas ruhiger los, aber seit 1997 hat sich
die Trennung zwischen Demo und Randale weitgehend aufgelöst, zum
Teil auch wegen der Verlegung der Demo in den Abend. Bullenangriffe auf
die Demo-Spitze wechseln sich in rascher Folge ab mit "Deeskalation",
wobei sich meistens sagen lässt, dass die Bullen durch ihr flexibler
gewordenes Vorgehen mehr Einfluss auf den Demo-Verlauf haben als die DemonstrantInnen.
Dafür blieben die Feste, die Anfang der 90er meistens Ausgangspunkt
von Randale waren, in den letzten Jahren von Bullenräumungen weitgehend
verschont.
Dieser Konflikt um den 1.Mai hat sich über die Jahre kaum verändert.
Die Schikanen wechseln im Detail, das Konzept ändert sich wenig:
Mediale Hetze im Vorfeld, Erfolgsmeldungen danach, die Zahl der eingesetzten
Bullen steigerte sich von Jahr zu Jahr etwas (von knapp 4000 im Jahr 1989
auf 6500 im Jahr 2000). Das könnte noch jahrelang so weitergehen,
allerdings machte sich zum 1.Mai 2000 erstmals massiv die Tatsache bemerkbar,
dass Berlin nunmehr auch Schauplatz der Bundespolitik ist und die politische
Latte damit gewissermaßen höher gelegt ist als bisher. Es konnte
passieren, dass die Sorge um den "guten" Ruf der Hauptstadt
und um die Sicherheit der Regierungsbonzen (und ihrer Autos) etc. die
traditionell dröge und großkoalitionsmatte Lokalpolitik unter
Druck setzt. Dann könnte am 1.Mai 2001 mit stärkerem Gegenwind
zu rechnen sein...
Der zweite Konflikt
ist ein klassischer innerhalb der Linken: Undogmatische und marxistisch-leninistische
Linksradikale haben eine lange Spaltungstradition in Deutschland. Seit
den späten 80er Jahren ist diese Spaltung gewissermaßen in
die autonome Szene hineingewachsen, die vorher fast deckungsgleich mit
"undogmatischen Linken" schien. Dazu kommt in Berlin die ebenso
traditionelle Spaltung zwischen den türkisch-kurdischen Gruppen,
von denen die meisten ML-orientiert sind.
Seit Ende 1989 entzündete sich die Spaltung vor allem an einer kleinen,
v.a. maoistischen Gruppe, die bis heute von vielen einfach "die RIM"
genannt wird. Diese Vereinfachung stimmt zwar so nicht exakt, da die "Revolutionäre
Internationalistische Bewegung" (engl. RIM) ein Dachverband verschiedener
Gruppen aus diversen Ländern ist; die beteiligten Gruppen sind natürlich
beleidigt, wenn sie einfach nur als "RIM" bekannt sind und nicht
unter ihrem eigenen langen Namen, wie etwa "Türkische Kommunistische
Partei / Marxisten-Leninisten - Maoistische Parteizentrale (TKP/ML-MPM)".
Das ist aber nur ein Nebenkriegsschauplatz. Anders als andere ML-Gruppen
versuchte und versucht "die RIM", in der linksradikalen autonomen
Szene Fuß zu fassen und sich an Themen anzuhängen, die dort
aktuell sind (zuletzt etwa die Solidaritäts-Kampagne zu Mumia Abu
Jamal). Schon im November 1989 gab es auf einer kleinen linksradikalen
Demo am Kudamm den ersten Konflikt um ein "RIM"-Transparent,
das u.a. Stalin zeigte (womit ein weiterer Nebenkriegsschauplatz eröffnet
war, nämlich der, ob die "RIM" nun stalinistisch sei oder
maoistisch oder beides. Auf diesen Nebenkriegsschauplätzen tobten
einige ML-Gruppen sich in der Folgezeit gerne aus, um der eigentliche
Diskussion um die realen Geschehnisse und um den Umgang innerhalb der
Linken auszuweichen). Die Reaktionen vieler undogmatischer Linker auf
die Präsenz der "RIM" waren von Anfang an recht heftig,
und die von den MLern eingeforderte "Freiheit der Agitation"
für alle Gruppen sahen sie an ihre Grenze gestoßen, wenn es
um lautstarkes Eintreten für Stalin auf linksradikalen Demos ging.
Das verstärkte sich in dem Maße, wie Linke aus der zusammenbrechenden
DDR in den Westen auf Demos kamen; für sie war ein Zusammengehen
mit Leuten, die den Stalinismus verteidigten, unmöglich und unbegreiflich.
Die "RIM" eskalierte den Konflikt, indem sie sich grundsätzlich
nicht an getroffene Absprachen hielt - wobei diese aufgrund der Mehrheitsverhältnisse
allerdings auch meist nicht zu ihren Gunsten ausgefallen waren - und wüste
Pamphlete veröffentlichte, die neben großen rebellischen Phrasen
vor allem Beleidigungen, Denunziationen und Lügen gegen Linksradikale
enthielten.
Die "RIM" entdeckte den 1.Mai als Möglichkeit, offensiv
zu werden: Anfang der 90er wurden jedes Jahr bundesweit Mitglieder mobilisiert,
ein vom Rest der revolutionären 1.Mai-Demo unerwünschter Lautsprecherwagen
wurde mitgebracht und verteidigt gegen Versuche, ihn aus der Demo zu schmeißen.
1993 gipfelte das in einer wüsten Schlägerei zu Beginn der Demo,
wobei sich bewaffnete "RIM"-Leute samt Lautsprecherwagen zweihundert
Meter weit durch die Demo nach vorne prügelten und schließlich
von den Bullen abgegriffen wurden.
Unter anderem wegen dieser über vier Jahre jedes Mal schlimmer werdenden
Auseinandersetzung fand sich 1994 keine Vorbereitungsgruppe für die
revolutionäre 1.Mai-Demo - niemand fühlte sich einem gewaltsamen
Konflikt innerhalb der Demo gewachsen, der scheinbar nur durch brutales
Vorgehen zu lösen war.
Die "RIM" hatte damit eines ihrer Ziele erreicht, nach dem Motto:
Wenn du eine Bewegung nicht dominieren kannst, zerstöre sie und gründe
eine neue. Seit 1994 führt die "RIM" jedes Jahr eine eigene
1.Mai-Demo durch ("13 Uhr O-Platz"), an der sich neben ein paar
hundert Leuten aus deutschen und türkisch-kurdischen ML-Gruppen auch
diverse verirrte Kiezleute und Demo-Touristen beteiligen, die meist nach
und nach die Demo verlassen, wenn sie merken, wohin sie da geraten sind.
Politische Relevanz hat dieser Demo-Wurmfortsatz kaum.
1996/97 gab es Versuche, die Trennung aufzuheben. Zum einen bemühten
sich ML-orientierte Autonome, eine Brücke zwischen dem dogmatischen
O-Platz-Bündnis und der undogmatischen revolutionären 1.Mai-Demo
zu schlagen, zum anderen gab es auch bei den Undogmatischen viele, die
die Auseinandersetzungen und schlechten Erfahrungen von Anfang der 90er
nicht kannten oder für übertrieben hielten. Die Versuche scheiterten,
die ML-Autonomen (und andere) beteiligen sich an der mittäglichen
Oranienplatz-Demo und werteten diese dadurch vorübergehend etwas
auf. Seit 1998 haben sich die dogmatischen ML-Gruppen dort aber wieder
durchgesetzt, während die kommunistischen Autonomen zur "erfolgreicheren"
abendlichen revolutionären 1.Mai-Demo überwechselten.
Die Anfang der 90er teilweise geführte Auseinandersetzung mit stalinistischen
oder auch marxistisch-leninistischen Politik-Konzepten führte nicht
weiter und wurde nicht weitergeführt. Letztlich wurde aus der Erkenntnis
der andauernden, tiefen und verletzenden Spaltung innerhalb der radikalen
Linken hier eher die unausgesprochene Konsequenz gezogen, oberflächlich
und unverbindlich zu bleiben.
Drittens: Der
Ost-West-Konflikt. Verschiedene Gruppen von Linken aus Ost-Berlin
hatten von Anfang an (das heißt ab 1.Mai 1990) ein kritisch-solidarisches
Verhältnis zum revolutionären 1.Mai. Sie hatten zum einen das
Interesse, sich nicht von der West-Linken vereinnahmen zu lassen - sie
wollten nicht "im Kleinen" genauso geschluckt werden wie "im
Großen" der Osten vom Westen. Mit einigen Traditionen oder
Umgangsformen der West-Linken hatten sie mehr als nur Probleme (genau
wie umgekehrt). In der Ablehnung MI.-orientierter Gruppen waren sich alle
einig, davon hatten sie in der DDR satt gehabt und keine Lust auf Wiederholungen.
Mit Militanz hatten einige grundsätzlich Probleme, andere vor allem
im Kontext, z.B. bei der Frage, wo und wann es knallt. Die Frage, ob es
sinnvoll sei, die revolutionäre 1.Mai-Demo durch oder nach Prenzlauer
Berg bzw. Friedrichshain zu führen, wurde auch unter Menschen aus
dem Osten durchaus widersprüchlich beantwortet, doch es blieben viele,
die lautstarke Zweifel anmeldeten. Besonders heftig war diese Diskussion
1997, als die Demo nach 1996 zum zweiten Mal nach Prenzlauer Berg führen
sollte; als Kompromiss ging sie schließlich "nur" durch
Mitte. Der schleichende Verlust von Prenzlauer Berg als rebellischer Kiez
und die zunehmende Durchmischung von Ost und West - letztlich eben doch
eine weitgehende Anpassung des Ostens an den Westen - nimmt dieser Debatte
nach und nach die Schärfe.
Viertens: Die
Offensive der Nazis am 1.Mai. Sie begann bereits 1992 mit dem Versuch
von ein paar Dutzend FAPlern, in Prenzlauer Berg zu demonstrieren. Bereits
hier wurden sie vom BGS beschützt, dennoch von entschlossenen Antifas
verjagt. 1993 wollten die Nazis es besser machen, es gelang ihnen, eine
kleine genehmigte Demo in Berlin-Friedrichsfelde durchzuführen, die
von den Bullen gesichert wurde (ähnlich wie Hellersdorf 2000, nur
alles zehnmal kleiner). 1994 wurde eine Nazi-Demo in Berlin-Treptow verhindert
durch unklare Verbotslage und Antifa-Mobilisierung, Antifas und Bullen
beherrschten das Straßenbild. Die FAPler machten daraufhin abends
eine kleine Spontandemo in Prenzlauer Berg, auch hier hatten sie Stress
mit Bullen und Antifas. Diese Nazi-Aktionen hatten keine große Ausstrahlung
und waren ein mehr lokales Phänomen.
Das änderte sich ab 1996, mittlerweile waren NPD und JN zum Hauptsammelpunkt
der Nazis geworden. In Berlin-Marzahn setzten sie eine Demo mit 300 Leuten
durch, von Bullen geschützt. Spätestens 1997 wurde erkennbar,
dass die NPD zum Angriff auf den 1.Mai blasen wollte: Bundesweite Mobilisierung,
nach dem Verbot der zentralen Kundgebung in Leipzig wichen sie (erfolglos)
auf andere Städte aus. 1998 dann mobilisierten sie um die 3000 Leute
nach Leipzig, eingekreist von Tausenden Bullen und Antifas. Sie hatten
es nun geschafft, sich unübersehbar in Szene zu setzen, was ja auch
ihr Hauptanliegen war. Die Linke musste sich mit dieser Herausforderung
beschäftigen und hatte dabei wenig zu gewinnen, denn nur eine totale
Verhinderung des Nazi-Aufmarsches wäre ein eindeutiger Erfolg, und
die ist kaum erreichbar.
Letztlich zeigt sich am Kampf um das politische Terrain "1.Mai"
ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend der 90er Jahre, nämlich
das wachsende Selbstbewusstsein und die größere Geschlossenheit
der Nazis bei gleichzeitig fortdauernder Untätigkeit der Staatsorgane
und Unfähigkeit der restlichen Menschheit, sie erfolgreich zu isolieren
und auszumerzen...
7. Welche Rolle
spielt die antifaschistische Mobilisierung im revolutionären 1.Mai
in Berlin?
Sie ist eine zweischneidige Angelegenheit. Der revolutionäre 1.Mai
soll eigentlich politisch offensiv sein, eine Kampfansage an das herrschende
System und eine Botschaft, daß immer noch viele tausend Menschen
eine revolutionäre Umwälzung zu einer befreiten Gesellschaft
wollen. Dadurch, dass in Form der Nazis nun auch das Gegenteil die Straße
für sich reklamiert, ist die Linke gezwungen, auch politisch defensiv
zu mobilisieren. Die Nazis an diesem Tag in Ruhe demonstrieren zu lassen,
ist kaum vorstellbar, doch die Gegenmobilisierung bindet und verschleißt
Kräfte. Auf die Dauer ist es unwahrscheinlich, dass die kleine radikale
Linke beides bewältigt, zumal wenn die Nazi-Mobilisierung sich gegenüber
1998 und 2000 weiter festigen oder gar steigern sollte. Vermutlich müssen
entweder die antifaschistischen Gruppen sich auf die Nazis konzentrieren
und den offensiv-politischen Aspekt der revolutionären Demo vernachlässigen,
oder es müssen breite Antifa-Bündnisse bis in bürgerliche
Kreise hinein angestrebt werden.
Letztlich ist die antifaschistische Mobilisierung am 1.Mai notgedrungene
Pflicht, der Rest ist die Kür.
8. Wie hat sich
der Charakter des revolutionären 1.Mai in Berlin entwickelt über
die Jahre?
Die Geschichte des revolutionären 1.Mai in Berlin lässt sich
in vier Phasen einteilen:
1987-1990 war der revolutionäre 1.Mai ein relativ offener, politisch
umkämpfter Anlass. Es war vorher nicht sicher, was passieren würde,
und es gab jeweils wichtige Begleitumstände, die den Verlauf des
Tages (mit)bestimmten und ihm seine individuelle Besonderheit verliehen.
Das war 1987 die in diesem Moment nicht erwartete, aber eigentlich fällige
Explosion, die auf Jahre der CDU-Beton-Politik antwortete, die sich zuletzt
in der selbstgerechten "750-Jahr-Feier" manifestiert hatte.
1988 ging es viel um 1987, also darum, ob der damalige Riot als einmalige
Sternschnuppe oder als Funke-zum-Steppenbrand eingeordnet werden müsse;
dem neuen Selbstbewusstsein der autonomen Szene im Vorfeld des IWF-Kongresses
in Berlin im Herbst 1988 standen markige Sprüche aus dem Regierungslager
gegenüber (Innensenator Kewenig wollte die autonome Szene "bis
zum Herbst zerschlagen" haben), der 1.Mai wurde so auch zu einer
Kraftprobe. Und natürlich war der Versuch spannend, erstmals seit
den frühen siebziger Jahren eine linksradikale Großdemo ohne
unmittelbaren Bezug auf eine Teilbereichsbewegung (also etwa Demos gegen
Häuserräumungen oder Friedensdemo), sondern mit dem einfachen
Programm "Revolution großartig, alles andere Quark" zu
versuchen.
1989 war die rot-grüne Regierung in Berlin ein zentraler Dreh- und
Angelpunkt des revolutionären 1.Mai: Würde der Regierungswechsel
eine Auswirkung auf die Mobilisierung der radikalen Linken haben, und
wenn ja, welche? Der 1.Mai schien eine gute Gelegenheit zu sein, klarzustellen,
was Linksradikale zu rot-grün zu sagen hatten, nämlich: die
Regierung wechselt, die Machtverhältnisse bleiben gleich. Außerdem
war die Thematik Repression, Innere Sicherheit, Militanz auf der Tagesordnung:
BKA-Schlag gegen Rote Zora im November 1988 mit diversen Haftbefehlen,
Verhaftung von zwei Leuten in Berlin wegen Anschlägen der "Amazonen",
Hungerstreik der RAF-Gefangenen im Frühjahr 1989, Skandale um den
Berliner Verfassungsschutz und einige seiner V-Leute...
1990 war natürlich der Fall der Mauer und der bevorstehende Anschluss
der Ex-DDR an die BRD ein bestimmendes Thema, das wiederum die Frage aufwarf,
was die radikale Linke dazu zu sagen haben würde. Zudem spielte der
scharfe Bruch von 1989 eine Rolle: Nach dem 1.Mai hatten sich damals lautstarke
Teile der (gemäßigten) Linken für die staatstragende "rot-grüne"
Seite entschieden und - angeführt von der "taz" - sowohl
nach dem Mai 1989 als auch vor dem 1.Mai 1990 eine beispiellose Hetzkampagne
gegen die autonome Szene inszeniert. 1990 wurde aber auch bereits die
zweite Phase erkennbar, als nämlich aufgrund des rot-grünen
Schulterschlusses mit den Rechten die Durchführung des revolutionären
1.Mai an sich zum Kampfterrain wurde, in diesem Jahr vor allem am Beispiel
des Straßenfestes (anfangs waren ja die Feste immer die Ausgangspunkte
der Randale!), das vom Bezirk verboten, letztlich aber trotz des Verbots
durchgesetzt wurde.
Nun begann die Phase
1991-1993, die geprägt war von den Bemühungen, den revolutionären
1.Mai durchzusetzen gegen staatlichen Terror und gegen die Spaltung durch
die ML-Kleingruppen (siehe Frage 6, Konflikte um den revolutionären
1.Mai). Die inhaltliche politische Gestaltung des Tages rückte in
den Hintergrund, der Erfolg bestand darin, dass die Demo überhaupt
stattfand. Ein Fest gab es 1991, es endete aber wieder im Tränengas,
daraufhin kam in den folgenden zwei Jahren kein Fest zustande. Die Auseinandersetzungen
innerhalb der Demo (v.a. mit den "RIM"-Leuten) und mit den Bullen
eskalierten von Jahr zu Jahr. Am Ende dieser zweiten Phase stand das vorläufige
Scheitern des revolutionären 1.Mai, vielleicht eine folgerichtige
Entwicklung, da sich der Schwerpunkt von der inhaltlichen Gestaltung immer
mehr dahin verlagert hatte, froh zu sein, wenn der Tag heil überstanden
war.
Die dritte Phase
war 1994/95, in diesen Jahren ging es vor allem darum, den revolutionären
1.Mai für die radikale Linke nicht aufzugeben: es gab 1994 wieder
ein (Szene-)Fest und 1995 den Autonomie-Kongress in Berlin.
1996 kam die "Wiedergeburt"
des revolutionären 1.Mai in Berlin. In den fünf Jahren, die
es nun seitdem die Demo und die mittlerweile zwei traditionellen Feste
gibt, hat sich wenig getan. Die politische Auseinandersetzung wird noch
weniger als früher um politische Themen geführt, vielmehr ist
der revolutionäre 1.Mai an sich Thema und Gegenstand der politischen
Auseinandersetzung geworden. Immerhin ist, anders als 1991-93, die Frage
"ob überhaupt" klar zugunsten der radikalen Linken entschieden
worden, und es geht nun weniger um das "Ob" als um das "Wie".
Die Situation lässt sich positiv wie negativ interpretieren. Positiv
gesehen, ließe sich sagen, dass die radikale Linke erfolgreich und
offensiv ein Terrain besetzt hat, auf der ihr nun andere politische Kräfte
gezwungenermaßen begegnen müssen. Negativ gesehen, ist der
revolutionäre 1.Mai erstarrt und ritualisiert, und mit jedem Jahr
der "same-procedure-as-every-year" wird es schwieriger, frischen
politischen Wind reinzubringen...
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