Im Bann der Götter: Nias zum Kennenlernen

Von Sirus Laia, Münster, Deutschland


Die kulturelle Entfremdung der jungen Niasser

Jetzt soll ich ihnen die Insel Nias vorstellen, eine kleine aber die größte unter den vielen kleinen Inseln im Westen von Sumatera. Den Indonesiern selbst ist sie relativ unbekannt und oft mit vielen Vorurteilen verbunden. Bevor wir diese Insel näher kennenlernen, möchte ich ihnen als Einstieg einen Ausschnitt aus einem Film aus dem Jahre 1995 zeigen. [Videoausschnitt aus dem Film Mit Bangen in die Zukunft -- 03:27 - 10:44]

Wir brechen hier ab, denn ich möchte den Kommentar gegen Ende des Filmausschnitts aufgreifen. Es wurde gesagt, daß die jüngere Generation der Niasser keine Ahnung mehr von ihren Vorfahren hat. Diese Feststellung läßt sich auch genauso gut auf die Frage nach Kultur übertragen. Die jungen Niasser kennen die Geschichte und Kultur ihrer Vorfahren nicht, und können deshalb nicht beantworten, welchen Stellenwert die Kultur in ihrem Bewußtsein hat. Schuld daran ist nicht nur die Bildungspolitik, in der die lokale Kultur im Schulunterricht kaum vorkommt. Es spielen auch andere Faktoren mit. Es seien noch zu nennen, erstens der jahrzent dauernde Umbruch im kulturellen (sprich: religiösen) Bewußtsein der Niasser, zweitens die Tendenz der Abwertung der Kultur gegenüber der um sich greifenden modernen Pop-Kultur, und drittens die latente Armut auf Nias, die dazu führt, daß Handlungen und Feste, in denen ja die Kultur am intensivsten erlebt und vermittelt wird, immer seltener veranstaltet werden. Denn solche Feste sind sehr kostspielig und in der Zeit der Armut scheint die ganze Pallette der Kultur, Luxus zu sein. Man beschränkt sich auf das nötigste. Diesen einzelnen Faktoren wollen wir hier nicht nachgehen. Ich möchte sie so zusammenfassen: seit dem Siegeszug der Kolonialmacht und des Christentums auf Nias verlor die alte sozio-religiöse Ordnung ihre Glaubwürdigkeit, während die neue Ordnung noch zu suchen ist. Die plötzliche Trennung zwischen Kultur und Religion in der neuen Ordnung führt zu einem unsichtbaren Riß in der Seele der Niasser, der sie immer unsicher macht. Sie haben in einer Gesellschaft mit ihren vielen Göttern gelebt, in der sich einst die Gesetze und Vorschriften (Fondrakö) der Vorfahren Lebenshalt, Orientierungshilfe, und Lebenshorizont anboten. An ihre Stelle tritt nun das Christentum, dem -- wenn ich richtig sehe -- nicht gelungen ist, die sowohl die soziale und kulturelle als auch die religiöse Dimension in sich zu vereinen. Im Gegenteil: statt es der Kultur einen gebührenden Platz einräumte, verteufelte es sie, was heute meiner Meinung nach tief im Unterbewußtsein der Niasser sitzt. Dieses Thema der Kulturentfremdung unter den jungen Niassern finde ich wichtig, denn die Kultur, die man in ethnologischen Büchern vorliegt, bleibt eigentlich zum größten Teil nur Geschichte. Deshalb lassen Sie mich dies anhand meiner eigenen kulturellen Biographie verdeutlichen. Sie trifft mehr oder weniger der Situation der anderen jungen Niasser zu.

Die kulturelle Biographie

Ich bin in einer christlichen -- zuerst evangelischen und dann katholischen -- Familie aufgewachsen. Daß mein Großvater ein Adat-Haus, also ein nach der Tradition gebautes Haus, besaß, konnte ich nur durch die Reste der Hölzer, die Stück für Stück in das Feuer in der Küche landeten, feststellen. Der Großvater war noch was wir Christen nennen ein Heide, aber mein Vater war und ist immer noch ein eifriger Christ. Die Kultur kommt im Leben der Familie kaum vor. Von den großen Hochzeitsfeiern oder den sogenannten Verdienstfesten der Niasser (Owasa), in denen die Kultur die ganze Pallette ihres Reichtums aufführt, habe ich fast nie erlebt. Die Menschen in der Gegend können sich solchen Luxus nicht mehr leisten. Die traditionellen Tänze, die Mythengedichte, die Legenden der Vorfahren, oder in Gedichtform vorgetragenen Ansprachen (Hoho), habe ich auch nie wirklich kennengelernt. Dann verließ ich das Dorf und besuchte die Schule in einem anderen Städtchen. Im Internat lernten wir durch Filme, Geschichts- und Märchenbücher ein bißchen von der europäischen Kultur kennen, aber auf die Auseinandersetzung mit der eigenen sind wir nie gekommen. In der Schule lernten wir die Geschichte der Völkerwanderung Indonesiens aus Vorderindiens und Süd-China, die Geschichte von Mahabrata und Ramayana, aber die Geschichte der eigenen Vorfahren ist uns unbekannt geblieben. Erst Jahre später, als ich nach dem Philosophiestudium Praktikum in der Pfarrei Teluk Dalam machte, kam ich mit der Kultur in Kontakt. Denn von da aus betreuten wir auch das Gomo-Gebiet, wo der Rest der untergegangenen Megalithkultur der Niasser noch zu finden ist. Erst seitdem lerne ich diese Kultur schätzen, auch wenn es noch oberflächlich ist. Aber mindestens weiß ich, was heißt, ein Niasser zu sein. Das sogenannte kulturelle Minderwertigkeitsgefühl ist zunächst nicht mehr so schlimm wie früher.

Geographisches

Werfen wir kurz den Blick auf die Geographie. Die Insel Nias liegt ungefähr 120 km entfernt von der Westküste der Großinsel Sumatera, also ungefähr eine Zugsfahrt von Münster nach Düsseldorf. Sie ist ca. 130 km lang und ca. 50 km breit, liegt quer vom Nordwesten zum Südosten. Laut der staatlichen Statistik von 1996 hat Nias 630.000 Einwohner [Siehe: Nias Regency Statistical Office]. Rund 164.700 davon sind Katholiken. Und weil die Mohammedaner und Buddhisten nur kleine Minderheit bilden, gehört also der Rest einer der vielen nicht selten gegen einander kämpfenden evangelischen Denominationen an. Die Bezirksregierung sitzt in einem kleinem Städtchen, das seit 1665 von den Kolonialherren (VOC) in Gunungsitoli umbenannt wurde. Das Land ist hügelig und hat einen Berg, dessen Gipfel ca. 800 m auf dem Meeresspiegel liegt. Zwei große Flüsse, Oyo und Susua, durchqueren die Insel. Je südlich man fährt, desto öfter wird man Kulturobjekte finden. Die berühmte Megalithkultur konzentriert sich hauptsächlich im Gomo-Gebiet und im Süden der Insel. Es ist ungefähr allgemein anerkannt, daß die Niassische Kultur von Gomo-Gebiet aus ihre Verbreitung fand.

Seit einigen Jahren gab es einen Plan, die Insel Nias als internationales Touristenziel aufzuwerten. Man hat diesen Plan zum Teil in die Tat umgesetzt, aber die Insel ist für solches ambitiöse Ziel immer noch nicht genug ausgerüstet. Die Deutsche "Gruppe Neues Reisen" hat erheblichen Zweifel daran geäußert [Siehe Jens Uwe Parkitny, Nias: Does Nias have what it takes? ]. Auf Nias läuft alles eben langsamer als in den anderen Teilen Indonesiens. Denn sie liegt weit weg von der Hauptstadt, Jakarta. Der 50jährige Aufbau Indonesiens seit der Unabhängigkeit hinterläßt auf Nias nur wenige Spuren. Das läßt sich nicht nur auf die "zentrifugale" Aufbaupolitik der Regierung zurückführen, wonach die Hauptstadt zunächst gebaut wird, und (hoffentlich) weitere Kreise zieht (Nias liegt aber ziemlich weit weg vom Schuß), sondern auch darauf, daß für Beamte -- das ist ein offenes Geheimnis -- Nias eine Exil darstellt oder als Exil verstanden wird. Ob es ihnen der Aufbau der Insel sehr am Herzen liegt, ist zunächst zu fragen.

Die Wirtschaft

Die meisten der Niasser leben als Kleinbauern, ganz wenige haben den Beruf als Kaufmann oder Beamte. Produkte aus Nias beschränken sich auf Rohgummi, Nelken, Kokosnuß, Muskat, und Pflanzenöl (Nilam). Aber wie im Film schon gesagt wurde, kennen sie keine systematische Landwirtschaft. Jede Familie hat ihr eigenes Reis- und Ackerfeld, in dem sie alles was sie zum Leben brauchen, anbauen. Denn sie arbeiten hauptsächlich nicht um zu produzieren, sondern nur sozusagen für "das tägliche Brot". Der Lebenslaufbahn einer ganz normalen Niassischen Familie sieht so aus [Ausführlichere Auskunft gibt auch Johannes Hämmerle in Nias. Land der Menschen. Ein Beitrag aus Zentral-Nias, Missionsprokur der Kapuziner: Münster, 1982]: Wegen der hohen Verschuldung, die aufgrund des hohen Brautpreises an jeder jungen Familie anhaftet, muß fast jede neue Familie von unten ihren Lebenslaufbahn anfangen. Üblich war -- und vielleicht noch ist im Dorf --, daß sie die ersten vier fünf Jahre extrem hart arbeiten muß, um ihre Schuld auszuzahlen, bevor sie an den Aufbau der eigenen Familie denkt. Gleich nach den Flitterwochen zieht das Paar schon in eine Hütte im Feld außerhalb des Dorfers aus. Dort roden sie ein Waldstück an und bebaut es mit Reis und Süßkartoffeln, und züchtet Hühner und Schweine. Ihre Hauptnahrung ist die Süßkartoffeln. Nur an Festtagen oder aus bestimmten Anlaß essen sie Reis, denn sie wollen sparen, um die Schuld so schnell wie möglich zu tilgen. Wenn alles gut geklappt hat, so daß die Heiratsverschuldung ausgezahlt wird, können sie nun daran denken, das eigene Haus zu plannen, und das Wirtschaftsleben auszubauen. Das kann aber nicht schnell erreicht werden. Denn, auch wenn die Heiratsverschuldung minimal ist, bleiben sie in den vielfältigen Schuldverpflichtungen der Großfamilie gebunden. Erst vielleicht nach Jahren könnte ihnen gelungen sein, festen Fuß auf dem Boden zu haben. Und falls ihnen wirtschaftlich gut geht, könnten sie sich nun um den Rang in der Dorf durch das sogenannte Rangfest mühen. Es ist aber, wie noch genannt wird, ein Fest, das das ganze wirtschaftliche Leben so ruiniert, daß sie wieder von unten anfangen muß. Ein Ethnologe sieht dies positiv als "soziales Regulativ", das verhindert wird, daß das Reichtum sich in der Hand einer Familie konzentriert [Siehe Waldermar Stöhr, Die Religionen der Altvölker Indonesiens und der Philippinen, 86].

Die Literarischen Zeugnisse

Die Existenz von Nias wurde zum erstenmal -- soweit es nachweisbar ist -- in den Notizen des arabischen Kaufmanns Sulaiman im Jahre 851 erwähnt. Die Niasser nannte er Kopfjäger, eine Bezeichnung, die bis in unser Jahrhundert noch lebendig bleibt. Mehr über Nias erzählte er uns nicht. Auch der andere Araber nicht, der fast 150 Jahre später die Region besuchte. Die ersten ethnologischen Notizen gab es erst im Jahre 1154, als der andere Araber El-Edrisi sein Buch veröffentlichte, in dem er von der Dorfstruktur, Heirat, und dem Kopfjagd auf Nias die Auskunft gab [weiter u.a. bei P. Suzuki, Critical survey of studies on the anthropology of Nias, Mentawei and Enggano, 'S-Gravenhage: M. Nijhoff, 1958; F. Zebua, Kota Gunungsitoli. Sejarah Lahirnya dan Perkembangannya, 1996]. Erst die niederländischen Kolonialherren, die seit 1825 die Insel Nias von den Engländern übernahmen, förderten zweck der Durchsetzung ihrer blutigen Kolonialpolitik anthropologische Untersuchungen auf Nias. In ihrem Auftrag oder in der Zusammenarbeit mit ihnen wurde wissenschaftliche Forschung durchgeführt. Aus der Hand dieser Wissenschaftler entstand zahlreiche Literatur, die in ihrem Umfang von den kleinen Traktaten oder Notizen bis zu mehrere bändigen Werken, wie z.B. von Schröder und Kleiweg de Zwaan, um nur zwei Namen zu nennen, umfaßt. Diese Literaturlandschaft wurde noch bunter, als die Missionaren der Rheinischen Missionsgesellschaft aus Barmen 1865 ihre Arbeit auf Nias aufnahmen. Sie berichteten viel von Nias, und hatten gute Kenntnisse der Niassischen Sprache. Besonders seien hier zu nennen, E.L. Denninger, der auch "der Vater der Niasmission" genannt wurde, und H. Sündermann, der durch seine Sprachforschung und Bibelübersetzung einen Namen gemacht hat. Seit ein paar Jahren mischt auch der Anthropologeamateur P. Johannes Hämmerle ein. Sein Engagement für die Dokumentation der Niassischen Kultur ist bis heute anerkennungswert, nicht zuletzt durch von ihm editierten Sammlungen der oralen Tradition und das von ihm gegründete Museum in Gunungsitoli. Für mich persönlich stellen die aus den Federn der Missionare entstandene Arbeiten eine verläßliche Quelle dar. Denn sie arbeiteten lange Jahre mit den Niassern zusammen, wohnten unter ihnen, und kannten die Leute in allen Ecken der Insel.

Kultur: Die Abstammung

In der ethnologischen Literatur wird Nias gewöhnlich von Sumatera separat behandelt. Das ist kein Zufall, sondern es beruht auf der Erkenntnis, daß anders als die anderen Völker auf Sumatera die Niasser andere Abstammung hatten. Der Anthropologe Kleiweg de Zwaan hat uns viele Legenden über die Abstammung der Niasser dokumentiert [K. de Zwaan, Anthropologische Untersuchungen über die Niasser Bd. II, Haag: M. Nijhoff, 1914, 1-17]. Sie sind aber oft untereinander widersprüchlich. Von der Kultur her, besonders ihre Megalithkultur, zeigt Nias nähe Verwandtschaft mit der Kultur der Völker aus der Region Assam -- ein Gebiet zwischen Indien und Burma -- und mit der Kultur der Völker auf Luzon, Philippinen. So vermutet man, daß bei der Völkerwanderung der frühen Zeit einige Völker die Region Assam verließen und auf Nias und Luzon landeten. Besonders verwandt mit der Niassichen Kultur ist die der Angamis, in Nagaland, Assam, die auch einst die Megalithkultur in solcher Intensität hatten, wie die Niasser. Sehen wir kurz, wie die Niasser selbst in ihren vielen Legenden vom Ursprung des Menschen auf Nias erzählen. Es gibt mehrere Versionen. Ich fasse sie so kurz:

Die Niasser glauben, daß die ersten Menschen auf Nias vom Himmel her hinab gesenkt wurden. Sie waren vier an der Zahl und wurden an verschiedenen Orten niedergesenkt. Der bekannteste unter ihnen war Hia, der weit über den Ort, wo er niedergesenkt wurde, hinaus bekannt ist. So kann man Hia als einen unter anderen Stammvätern denken oder als den ersten Menschen auf Nias überhaupt. Aufgrund seiner bereiteren Bekanntheit unter den Niassern ist er m.E. der Schlüsselfigur der Stammväter. Denn nach meiner Kenntnis hat keiner der anderen Stammväter Legenden in solcher intensiven Art wie er [die Ahnenverehrung z.B. läßt sich auf die Anordnung des Hias zurückführen und für ihn selbst gibt es auch Idolfigur!]. Außerdem ist Gomo als Ursprungsort der Menschen und Kultur auf Nias von vielen Niassern nicht unbekannt. Nach seiner Her abkunft ließ sich Hia in Börö Nadu, Gomo, Mitte Nias, nieder. Dort baute er ein Dorf auf und begründete mit seinen Nachkommen ein Gesellschaftssystem, in der die Religion, Kultur, und soziales Leben eine Einheit bildeten. Von ihrer Existenz, Kultur, und ihrer Gesellschaft bezeugen bis heute die erhaltenen Megalithen, Ahnenfiguren, und Legenden.

Kultur: Die Rangfeste.

Wenden wir uns nun der Niassischen Kultur zu. Ich beschränke mich dabei auf zwei Elemente, die einst eine zentrale Rolle in der alten Niassischen Kultur gespielt haben, und blende die anderen Aspekte bewußt aus. Das erste ist das sogenannte Verdienstfest, und das zweite die Ahnenverehrung. Das Verdienstfest oder genauer gesagt das Rangfest stellt den Höhepunkt im Leben einer Niassischen (Häuptlings)familie dar. Denn bei diesem Fest erhält der oder die Gefeierte Titel und Denkmäler, die ihm oder ihr einen bestimmten Rang im Dorf verliehen. Es gibt verschiedene Feste: Feste zu Ehren der Eltern, Rangfeste für die Frau und dann für den Mann [einen guten Überblick aus Zeugnissen der Missionare liegt W. Stöhr vor. Ausführliche und kritische Darstellung findet sich in J. Hämmerle, "Die Megalithkultur im Susua-Gomo-Gebiet, Nias", in: Anthropos 79 (1984), 587-625]. Selbstverständlich hat ein solches Fest einen religiösen Aspekt. Er verleiht dem Festgeber Macht, und hohen Rang im diesseitigen, wie auch im jenseitigen. Es ist keine Frage, daß die Erlangung dieses Rangs im Verständnis der damaligen Zeit zugleich ein Segen für die ganze Sippe bedeutet.

Für ein Rangfest wird lange Jahre gearbeitet und vorbereitet, und dann alles für diese Fest ausgeben. Die Folge ist, daß der Festgeber wirtschaftlich zusammenbrechen kann, was oft der Fall ist. Denn die Veranstaltung solches Festes ist sehr aufwendig. Es müssen viele Schweine (es können Hunderte oder mehr sein) geschlachtet, Steindenkmäler errichtet, und goldene Schmücke angefertigt werden. Es scheint aber, daß für die Niasser der Titel oder der Name wichtiger waren als Reichtum. Und das ist ein Phänomen, daß m.E. im Unterbewußtsein der Niasser wirksam bleibt, auch wenn solche Feste wegen des Einflusses des Christentums fast verschwunden sind. Für sie ist der gute Name/Ruf viel mehr wert als Geld.

Zwei Elemente sind mit diesem Fest unmittelbar verbunden: erstens die Schlachtung eines Sklaven/eine Sklavin, und die Errichtung eines Steindenkmals. Ich werde hier die ganze Zeremonie nicht anführen. Wichtig ist zu behalten, erstens, daß damit in der alten Niassischen Kultur die Sklaverei fest verankert war, was natürlich den Sklavenhandel mit Acehnesen ermöglichte. Und zweitens, daß die Megalithen in der Beziehung zu dem Rangfest standen und nur in diesem Zusammenhang verstanden werden können. Es gibt verschiedene Steine, die für verschiede Feste benötigt werden. Die bekanntesten Steine sind: Der Steinsitz mit oder ohne Rückenlehne (zu Ehren der Eltern), der Stein in Pilzform (für das Rangfest der Frau), der Tragsitz (oft mit einem oder drei tierformigen Köpfen), und Menhir (für das Rangfest des Mannes).

Kultur: Die Ahnenverehrung

Das zweite Element in der alten Niassischen Kultur ist die Ahnenverehrung, deren Existenz und zentrale Rolle im Leben der Niasser die schier unzähligen Ahnenfiguren bezeugen. Die Bezeichnung Ahnenverehrung ist vielleicht nicht gerade exakt, denn es gibt nicht nur die Figuren der Ahnen, sondern auch die der Götter, Geister, Priester, Häuptlinge. Außerdem sind sie nicht nur Figuren, sondern Idolfiguren, die den mit dieser Figur bezeichneten Gott, Priester, oder einen anderen verkörpern. Diese Figur ist also ein mit Realpräsenz beanspruchendes "Alterego" dessen, wofür sie steht. Man wird erstaunt sein, wie viele Arten von diesen Figuren es gibt. Wir können mit Recht sagen, daß die Vorfahren der Niasser im Bann der (Götter- und Geister-)figuren lebten. Fast für jede Angelegenheit gibt es entsprechende Figur, die eine bestimmte Funktion erfüllt. Adu Horö (die Idolfigur für Sündebekenntnis) z.B. fungiert als ein Gegenüber, der die Strafe verhindern und mit dem man Versöhnung erlangen kann. Die Hausidolfiguren haben die Funktion, das Haus zu bewachen und zu schützen. Es gibt auch Idolfigur für Hia, den ersten Menschen auf Nias bzw. den Stammvater, die die Hausbewohner an die Gesetze und Regel erinnert, und sie zurechtweist.

Die Gesellschaft

In der frühen Zeit gab es viele Bezirke auf Nias, die aus mehreren Dörfern bestehen können. Die Macht über einen Bezirk lag in der Hand der Häuptlinge, aber die eigentliche Regierung konzentriert sich im Dorf. Die Gesetze, Regelungen, und Vorschriften (Adat) werden zum Teil auf der Dorfebene entschieden, sonst auf der Bezirksebene. Es mag so gewesen sein, daß der Rang eines Häuptlings auf der Bezirksebene bestimmt wurde.

Wie gesagt, jedes Dorf hat ihre eigene Regelungen, Gesetze. Der Chef des Dorfes wurde Si Ulu im Süden und Salawa im Norden genannt. Sie gehören zu der adeligen Klasse, während die anderen (die allgemeinen, sagen die Niasser) der normalen Bürgerklasse zugehören. Das Reichtum eines Dorfchiefs wurde an seinem Eigentum gemessen. Im Klartext heißt das auf Nias: wie viele Schweine er besitzt und wie groß seine Landwirtschaft ist. Diese waren sehr wichtig, denn wer reich genug ist, kann auch das Rangfest veranstalten, und so Namen und Denkmäler für sich errichten lassen.

Außer der Häuptlinge gab es noch die sogenannte Si Ila (die Ältesten). Sie unterschieden sich von den allgemeinen Bürgern, indem sie die beratende Funktion bei den wichtigen Entscheidungen im Dorf ausübten. Wichtige Entscheidungen konnten auch in der Versammlung des ganzen Dorfes ausgehandelt werden. Dann bleibt noch zwei Stände zu nennen, die nicht in eine der Klasse eingeordnet werden, nämlich der Stand der Priester und Priesterinnen, und der der Sklaven. Die Sklaven waren diejenigen, die dazu gezwungen wurden entweder durch einen Krieg (also die Besiegteten) oder dadurch, daß man seine Schuld nicht mehr bezahlen konnte. Die Sklaven verrichteten die Arbeit für ihren Herrn, und wurden im Rangfest geopfert.

Die Sklaverei

Die Sklaverei stellt ein eigenes Phänomen in der früheren Niassischen Gesellschaft dar. Ich werde aber darauf nicht weiter eingehen. Wichtig ist zu betonen, daß die Niasser "ein Träuma" davon hatten, und im Unterbewußtsein noch haben. Dies z.B kommt zum Ausdruck in Protest wie "Ich bin nicht dein Sklave" (tenga sawuyumö ndra'o), der -- wenn ein Niasser so sagt -- einem todernsten Protest gleich! Und wie oben schon gesagt, es wurden viele Niasser als Sklaven von Acehnesen gekauft oder gejagt. Zwei Orten sind dabei in diesem Zusammenhang besonders historisch wichtig für das Christentum auf Nias. Der erste ist Penang in Malaysia. Die katholischen Missionaren kamen zu Beginn des 19. Jhs auf die Idee, nach Nias zu kommen, ausgerechnet durch den Kontakt mit den Sklaven auf Penang. Aber genauso hat sich der Weg der evangelischen Mission nach Nias ungefähr halbes Jahrhundert später gebahnt. Der Missionar Denniger, der damals in Padang aufhielt, begegnete dort den Sklaven aus Nias, und kam auf die Idee, Nias zu missionieren.

Der Brautpreis

Bevor wir anfangen, die Religion der Niasser näher zu betrachten, möchte ich noch ein Problem nennen, das bis heute ein gesellschaftliches Problem auf Nias bleibt. Die Rede ist vom Brautpreis. Nicht wie oft verstellt, als verkäuften die Niasser ihre Töchter, wurde Brautpreis als Erweisung der Ehre vorgesehen. Der Bräutigam muß zeigen, daß er der Familie der Braut die Ehre erweisen kann durch Geschenke in Form von Gold, Schmück, oder Schweine. Es kann aber passieren, daß der Brautpreis in die unerreichbare Höhe treibt, weil die Frau aus einem höheren Familiestand stammt, dem auch die Ehre größer gezahlt wird. Dann könnte sein, daß die junge Familie lebenlang die Schuld bezahlt. So, heiratet ein Mann aus meiner Familie, muß ich meinen Teil dafür ohne wenn und aber zahlen. Und heiratet meine Tochter, so muß ich alles zurückzahlen, was ich in der Hochzeit der Töchter meiner Brüder, Schwestern und engen Verwandten bisher empfangen habe. Und auch wichtig vor Augen zu behalten, daß das, was man in Adat-Hochzeit empfängt, nur auch durch Adat-Hochzeit zurück gezahlt werden kann. Man kann nicht sagen, ich habe jetzt Geld, dann bezahle ich auch jetzt meine Adat-Hochzeitschuld. Kritisch wird es, wenn in der Zeit der Not diese Schuld gezahlt werden muß. Seit einigen Jahren gibt es kirchliche Initiative, eine obere Grenze des Brautpreises zu verbindlich festzulegen. Diese Initiative hat sich aber nie richtig durchgesetzt. Wahrscheinlich liegt ein Grund darin, weil zu sehr darauf Wert gelegt wird, den Brautpreis einzuschränken, und nicht darauf, wie der kulturelle Gehalt des ursprunglichen Brautpreises umgesetzt (also Wertumstellung) werden.

Die Religion

Einen Überblick von der alten Religion der Niasser zu bekommen ist nicht leicht. Diese Schwierigkeit haben auch die Missionaren überwältigen müssen, als sie den Niassischen Namen des christlichen Gottes und Herrn finden mußten. Sie entschieden sich für Lowalangi für Gott und So'aya für Herrn. Es ist aber nicht eindeutig, ob Lowalangi der höchste Gott der Niasser ist. Das Problem ist für die Niasser zwar nicht mehr von Belang, weil sie alle Christen geworden sind, und mit dem Namen Gott eine bestimmte Gottesvorstellung verbinden müssen. Aber in der Rekonstruktion des Glaubenssystems der alten bleibt es ein unlösbares Problem. Ich werde hier die ganze Diskussion nicht vortragen [Siehe weiter u.a. W. Stöhr; P. Zoetmulder, Die Religionen Indonesiens, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1965, S.68-93 und W. Stöhr, "Vielfalt und Totalität. Die Religionen Indonesiens," in: Eliade, Mircea, (hrsg.), Geschichte der Religiösen Ideen III/2, Freiburg u.a.: Herder, 1991, 89-142]. Ich werde aber eine vereinfachte Version vorstellen, die ungefähr die Glaubenswelt der Niasser erleuchtet.

Es scheint, daß die Niasser eine dualistische Weltvorstellung hatten. Es gibt die Ober- und Unterwelt, die jeweils vom eigenen Gott beherrscht. In der Oberwelt, der Welt des guten, herrscht Lowalangi, während in der Unterwelt, der Welt des Schattens und Bösen, Lature Danö die Oberhand hat. Lowalangi steht zu, über Leben und Tod, Segen und Fluch, Reichtum und Armut, zu bestimmen, während alle Krankheit und Tod, Katastrophe und böse Schicksale dem Lature Danö zugeschrieben werden. Sie sind zwei stets gegen einander kämpfenden Mächte. Nach einer Version der Schöpfungsmythen aus dem Nord-Nias gab es am Anfang nur Nebel und Chaos. Daraus entstand göttliches Wesen, das Sihai genannt wird. Er ist der Schöpfer der Welt. Nach seinem Tod wuchs aus seinem Leib der mythische Baum, aus dessen Knospen Lowalangi und Lature Danö hervorgegangen sind und die Welt beherrschen. Daß diese Version sehr vereinfacht ist, liegt auf der Hand. Denn in der Tat gab es nicht einen oder zwei Götter in der Vorstellung der Niasser, sondern mehrere wenn nicht viele Götter, und noch dazu die Geister und die Ahnen. Vielleicht sagen wir so, es gibt einen oder zwei höhere Götter aber niedrigere Götter und unzählige Geister. Jeder Niasser war der Macht dieser Götter und Geister ausgeliefert. Und in diese Vorstellung kehren die Niasser bis heute zurück, wenn in ihrem Leid der Gott des Christentums nicht mehr hilft. Um diese Geister zu besänftigen, brauchte man Idolfiguren. Denn -- so glaubten die Niasser -- ein Priester oder eine Priesterin kann diese Geister in die Figuren festnageln, indem er oder sie ihnen ihren Platz in der Figur zuweist. Nur so hat man die Götter und Geister "unter Kontrolle", so daß sie ihr Unwesen nicht treiben. Diese Kontrolle liegt aber am richtigen Verhalten zu ihnen oder im sittlichen Leben überhaupt. So, wenn jemand ins Spiel der Geister gerät, weil er sich falsch verhält, kann er immer zu einem Priester oder einer Priester gehen, und sich versöhnen lassen. Wir können sagen, daß die Vorfahren der Niasser im Bann der Götter und Geister gefangen wurden, aber im richtigen Verhalten ihnen gegenüber (sprich: im sittlich guten Leben) konnten sie im Frieden leben und Glück erlangen. Dafür aber hatten sie in allen Lebenslagen kompetente Priester und Priesterinnen. Ob die Niasser heute auch kompetente Priester und Priesterinnen als Beistand haben, die ihnen den Weisen im richten Verhalten zu den neuen Göttern, bleibt eine Frage.


* Unveränderter Text eines Vortrags am 16. Mai 1998 im Rahmen einer Veranstaltung des "Katholischen Bildungswerks des Bistums Aachen"


Ausgewählte Literatur für einen Überblick:

Allgemein:

Loeb, Edwin M., "The Islands West of Sumatera. Part I. Nias", in: ders.; Heine-Geldern, R., Sumatera, Wien: Institut für Völkerkunde der Universität Wien, 1935, 129- 157.

Penn W.; Hollweck, S., Mit Bangen in die Zukunft. Nias/Indonesien: Eine Insel im Umbruch (Video), 1995.

Schnitger, F.M., Forgotten Kingdoms in Sumatera, Leiden: E.J. Brill, 1964, Nias 145-164.

Southall, Ivan, Indonesia face to face, Melbourne: Lansdowne, 21965, Nias 203-206.

Megalithen und Ahnenfiguren:

Hämmerle, Johannes M., Hikaya Nadu, Nias: Pustaka Nias, 1995.

_____, "Die Megalithkultur im Susua-Gomo-Gebiet, Nias", in: Anthropos 79 (1984), 587-625.

Siehe auch J. Hämmerle und P. Suzuki unten

Religion der Niasser:

Hämmerle, J., Nias. Land der Menschen. Ein Beitrag aus Zentral-Nias, Missionsprokur der Kapuziner: Münster, 1982.

Stöhr, Waldemar; Zoetmulder, Piet, Die Religionen Indonesiens, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1965, S.68-93.

_____, "Vielfalt und Totalität. Die Religionen Indonesiens," in: Eliade, Mircea, (hrsg.), Geschichte der Religiösen Ideen III/2, Freiburg u.a.: Herder, 1991, 89-142.

Suzuki, Peter, The Religious System and Culture of Nias, Indonesia, 'S-Gravenhage: Excelsior, 1959.


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