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Zurück in der heilen Welt??????
Bericht über die Moldavienreise v. 20.01. bis 27.01.1997
Ich sitze hier, fast drei Wochen nach meiner Rückkehr aus Moldavien und versuche endlich meinen Bericht zu Papier zu bringen. Sonst habe ich es
immer geschafft dies gleich in Angriff zu nehmen, aber nun fällt es mir schwer alles nieder zu schreiben, was ich gesehen, erlebt und empfunden habe. Vielleicht hat das damit zu tun, daß ich Mitte Januar, als ich
für drei Tage in Berlin weilte, um für unsere Organisation bei der Sendung "Das große Los" etwas Geld mit nach Hause zu bringen, persönlich erlebt habe, wie lässig man hier zu Lande mit Geld und Luxus
umgeht. Drei Tage später komme ich dann in ein Land, das scheinbar vergessen wurde, und wo mir die Armut an jeder Ecke ins Gesicht schreit. Ich habe das Gefühl, eine riesengroße Kluft tut sich vor mir auf und es
gelingt mir nicht, diese zu überwinden, um die Menschen hier zu Hause durch meinen Bericht in eine total andere Welt mit zu nehmen.
Am Montagabend landen wir nach problemlosem Flug pünktlich in Chisinau. Mein Bruder, der auch schon im Mai mit dabei war, begleitet mich. Nur
zweieinhalb Stunden trennen uns von dem supermodernen Flughafen in Frankfurt und diesem hier, wo der Fortschritt vor einigen Jahrzehnten offensichtlich den "Geist" aufgegeben hat. Nicht nur die Temperatur
ist frostig, alles scheint sehr eisig zu sein. Wir werden von Kopf bis Fuß kontrolliert und nochmals kontrolliert, selbst unsere Geldbeutel müssen wir entleeren. (Wenn die Beamten ahnen würden, wieviel Geld ich bei
mir habe und wo alles versteckt ist !) Ein komisches Gefühl in der Magengegend , doch nun sehe ich bekannte Gesichter und bin glücklich. Herr Dr. Manolache, der Herzchirurg, und ein junger Arzt, der etwas deutsch
spricht, holen uns in dem unwirtlichen, kalten Flughafengebäude ab. Mit dem zwanzig Jahre alten Auto, das ich schon vom letzten Jahr kenne(auf dem Fußboden befand sich ständig Eis) fahren wir in ein großes
Restaurant, wo wir die einzigen Gäste sind. (Bin ich froh, wenn morgen Gusti, unsere Dolmetscherin aus Rumänien kommt, denke ich, bei der Konversation in meinem dürftigen englisch). Bei dem Gedanken, daß die beiden
Ärzte einen Großteil ihres Monatslohns für dieses Essen hinlegen müssen, kann ich eigentlich nicht mit Genuß am Tisch sitzen.
Wir wohnen, wie immer, in unserem "Nobelhotel"(einem heruntergekommenen Studentenwohnheim) gegenüber der Klinik und sind angenehm
überrascht, daß inzwischen doch einiges renoviert wurde. Auch unsere Zimmer haben einen Elektroofen und sogar ein Wasserglas (das dazu gehörige Wasser in dem Gefäß trinken wir lieber nicht). Doch bei dem notwendigen
Gang auf das "stille Örtchen", wird der euphorische Gedanke gleich zunichte gemacht. Man hat zwar neue Toilettenschüsseln eingebaut, aber das ist auch das Einzige. Man möge mir hier bitte weitere
Erläuterungen ersparen, warum nicht nur mir, spätestens beim dritten Gang dorthin nach Erbrechen zu Mute ist. Den Duschraum, der unverändert mit Schimmel, Rattenkegeln und rostigen Rohren anzutreffen ist, wage ich
nur einmal (ausgestattet mit Plastiktüten für den ekligen Fußboden) aufzusuchen, aber leider ohne Erfolg. Genau an diesem Morgen gibt es kein warmes Wasser, und zudem fließt es nur einem Rinnsal gleich aus dem
rostigen Rohr. So wasche ich mich eben im Waschraum, meist mit warmem Wasser, das aber durch die chemischen Zusätze eine komisch weiße Färbung hat und für Haut und Haare nicht sehr gesund sein kann, was ich
inzwischen feststelle. Auch mit der Nachtruhe will es nicht so richtig klappen. Jede Nacht hört man das durchdringende, unaufhörliche Jaulen der wilden Hunde, die sich wegen ein paar Resten aus den Mülltonnen das
Fell zerreißen. Tagsüber sieht man sie nicht, da
sind die Menschen an den Mülltonnen. Wach im Bett liegend höre ich auch die Ratten, die über den Gang laufen und hoffe, daß sie kein Loch in
mein Zimmer nagen.
"Du bist nur eine Woche hier, andere müssen hier ihr Leben verbringen", sage ich mir immer wieder und kann somit vieles ertragen, was
zu Hause undenkbar wäre.
Am nächsten Morgen treffen wir unsere Freunde aus Rumänien, die die ganze Nacht über mit dem Zug gefahren sind, um uns bei den so wichtigen
Gesprächen als Dolmetscher zur Seite zu stehen. Ohne Gusti und Constantin Munteanu wäre eine solche Mission nicht möglich. Sie haben an Wochenenden vorgearbeitet, um uns nun begleiten zu können. Solche Freunde kann
man an den Fingern einer Hand abzählen.
Wir treffen uns mit dem Klinikchef im Krankenhaus und stellen fest, daß unser Aufenthalt schon bestens organisiert ist.
Heute, Dienstag besichtigen wir einzelne Stationen der Klinik. Das ganze Haus scheint zu wissen, daß "HFO", oder zumindest eine
Abordnung angekommen ist. Auf der Herzstation werden wir von vielen, meist jungen Patienten, die schon eine Herzklappe von uns erhalten hatten oder nun durch unsere Hilfe bekommen würden, erwartet. Es ist rührend
und ergreifend, wie sich die Patienten freuen und dankbar sind. Einzelne Schicksale gehen uns besonders nahe, und wir versuchen zu helfen. Die Herzerkrankungen nehmen zu. Man zeigt uns Statistiken. Ist das bedingt
durch den psychischen Druck der Armut, der Ausweglosigkeit oder durch den Mangel an gesunden Lebensmitteln und Medikamenten? Ich glaube, beides spielt eine Rolle. Da ist eine 36-jährige Frau mit 6 Kindern, schwer
herzkrank durch unbehandeltes Rheuma. Der Mann hat sie verlassen, ihr ältester Sohn wurde Mitte Dezember ermordet im Wald aufgefunden, alle Kinder sind nun im Heim, sie muß dringend operiert werden. - Natürlich am
Herz, ist das ein Wunder?- So gibt es unzählige Schicksale. (Sie wurde inzwischen operiert durch unsere Hilfe).
Leider ist das Budget des Staates so gering, daß es meist nach ein paar Wochen schon aufgebraucht ist, und die Patienten müssen selbst für die
benötigten Medikamente aufkommen. Die Patienten verkaufen Haus und Hof um Medikamente für eine Operation zu bekommen.
Auf der Dialysestation sehen wir 19 Apparate, davon ist nur einer neueren Datums von der Firma Siemens als Leihgabe für ein Jahr, danach muß er
abbezahlt werden. Wenn die alten kaputt gehen, gibt es keinen Ersatz. Mit diesen Apparaten werden derzeit 180 Dialysepatienten pro Jahr behandelt, auf der Warteliste stehen aber 800 Patienten. Gerne würde man eine
Dialysestation für Kinder aufbauen, es fehlt aber leider an den finanziellen Mitteln. Auch die Nierenerkrankungen nehmen zu.
In die hiesige Physiotherapieabteilung dürfte auch nie der TÜV kommen, wie es bei uns Vorschrift ist. Man verfügt hier über 152 (uralte)Geräte,
mit denen täglich fast alle Patienten behandelt werden. Ein Masseur verdient im Monat 25 Dollar und macht 13 - 15 Massagen pro Tag.
Beim Mittagessen in der Klinik treffen wir auf Regina aus Moskau, bei der wir wieder für 5.000 DM Herzklappen bestellt hatten. Die
Wiedersehensfreude ist sehr groß, aber leider wird diese getrübt durch die Mitteilung, daß die Herzklappen sehr viel teurer geworden sind seit dem letzten Mai, nun bekommen wir nur noch 15 statt 25 Stück. Beim
nächsten Transport müssen wir eben 10.000 DM für Herzklappen einplanen.(Vielleicht ergibt sich mal wieder eine Gelegenheit beim Fernsehen?). Nach einem schönen Abend bei einer Herzklappenpatientin, die vor zwei
Jahren durch uns ein zweites Leben geschenkt bekam (wie sie immer so schön sagt), treffen wir uns am nächsten Morgen zu einem Rundgang in der Herzklinik. Es ist ein Lehrkrankenhaus mit 300 Betten neueren Datums.
Dort werden hauptsächlich Patienten mit Herzinfarkt, Rhythmusstörungen und Hochdruck behandelt. 80% der benötigten Medikamente stammen aus Hilfslieferungen. Letztes Jahr hatte die Cardiologin aus der Kinderklinik
dem Chefarzt Dr. Revenco alle Herzpräparate von uns, die sie nicht benötigte, weitergegeben.(Genau so wünschen wir das.)
Herr Dr. Seremet, der Chefarzt der einzigen Krebsklinik in Moldavien und Vorsitzender der Hilfsorganisation "Vereinigung - Helft den Armen,
Kranken und Alten", holt uns ab und stellt uns einigen aktiven Mitgliedern der Organisation vor. Man bedankt sich von Herzen für unsere Unterstützung und berichtet uns über die derzeitige Situation der Menschen
in Moldavien. Z.B. haben Lehrer, Richter , Kindergärtnerinnen, Ärzte und Krankenschwestern seit 6 - 8 Monaten keinen Lohn mehr vom Staat bekommen, Rentnern wurde seit genau soviel Monaten, auf dem Dorf sogar bis zu
einem Jahr, keine Rente mehr ausbezahlt. Viele sind in dem harten Winter 96/97 erfroren und verhungert. (in den zwei von ihm versorgten Dörfern alleine 12 Menschen). Am schwersten trifft die derzeitige Not die
Alten, Invaliden, Kranken, Arbeitslosen, Waisen und Rentner. Alte, alleinstehende Menschen bitten um eine Spritze um zu sterben, so furchtbar ist das Dasein, berichtet uns Dr. Seremet. Kein Mensch kümmert sich um
Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium, sie müssen qualvoll sterben. Um genau diese bedauernswerten Menschen kümmert sich eine Handvoll Ärzte und Krankenschwestern an Wochenenden und nach Feierabend, indem sie
Essen von zu Hause auf die Dörfer bringen, die Leute mit Kleidung und Pflegemittel versorgen, Spritzen geben und Verbände machen. Es werden auch Studenten, die kein Geld, keine Kleidung und kein Essen haben von
dieser Organisation unterstützt - und das alles ehrenamtlich für Gottes Lohn. Hut ab vor so viel Nächstenliebe, wenn man selbst nichts hat, (eine Krankenschwester verdient im Monat ca. 45,00 DM und ein Arzt ca.
120,00 DM.) Nach einem Rundgang durch die Klinik, die genau so sanierungsbedürftig ist wie alle anderen und einem Mittagessen, das die Ärzte von zu Hause mitgebracht haben, fahren wir in eines von der Organisation
unterstützten Dörfer.
Was wir hier zu sehen bekommen, kann ich nur schlecht beschreiben. Manch einem könnte bei diesen grauenvollen Zuständen das Herz stehen bleiben.
Es sind nur zwei Beispiele von Unzähligen. Ich versuche das Gesehene in etwa zu beschreiben. Wir kommen zu einer Hütte, ein kleiner Raum ist bewohnt, es ist kalt, riecht modrig, im dunklen Raum sieht man eine
Schlafstätte mit schmutziger Wäsche und einen Steingutofen, der zum Kochen und als Heizung seinem Zweck dient. Wo ist eine Toilette, ein Schrank etwa für Lebensmittel oder Kleidung, eine Wasserquelle? Das gibt es
nicht. In einer anderen Hütte wiederholt sich das ganze. Dort wohnen zwei Geschwister, 19 und 20 Jahre alt, etwas behindert, die Eltern sind gestorben, man hat sie zufällig in einem Loch hausend gefunden, halb
verhungert. Sie schlafen gemeinsam in einem Bett, wenn man diese Schlafstätte als solches bezeichnen kann. Der unbeheizte Ofen ist direkt daneben. Ein kleiner Tisch mit einem halben Laib Brot und ein Stuhl mit einem
Eimer Wasser, die Ration für eine Woche, das ganz Hab und Gut dieser beiden jungen Menschen. Auch hier keine Wasserleitung, nur der Dorfbrunnen, keine Toilette, nachts die Ratten. Ich habe Angst, daß man mir nicht
glaubt, was ich hier niederschreibe, aber es ist die Wahrheit. Bei uns dürfte man kein Haustier in solchen Räumlichkeiten halten, gleich käme der Tierschutz. Wir bringen eine warme Decke, Kleidung und Schokolade.
Wenn ich nachts wach liege, denke ich immerzu an diese beiden Geschwister, wie sie sich gegenseitig wärmen und schützen müssen in dem engen und kalten Raum. Ich denke an die Ungerechtigkeit in dieser Welt und fühle
in mir mehr Kraft denn je weiter zu machen, zu helfen, aber auch gleichzeitig meine Ohnmacht gegen die Gleichgültigkeit Vieler, denen es sehr gut geht und die im Überfluß leben.
Es ist Donnerstag und Pfarrer Joan und Dr. Siman aus Orhei holen uns pünktlich vor unserem "Hotel" ab. Die Begrüßung ist herzlich. Wir
fahren durch eine herrliche Winterlandschaft nach Orhei und besichtigen nach vorangegangenen Gesprächen die neue Kinderklinik, die nach 6 Jahren Bauzeit nun endlich Ende Dezember belegt werden konnte. Das neue Haus
hat 80 Betten verteilt über drei Stockwerke. Zu unserer Freude entdecken wir überall die von uns gebrachten Sanitärartikel und Betten. Natürlich fehlt es noch an allem, aber auch da werden wir unser Möglichstes tun.
Nachmittags sind wir bei Pfarrer Joan, der uns, wie immer, in gastfreundlichster Weise bewirtet.
Am Freitag werden wir früh von der Cardiologin der Kinderklinik, Frau Nelia Matragun, die unsere Kontaktperson für die Kinderklinik ist, in
unserem "Hotel" abgeholt. Sie freut sich herzlich uns zu sehen und ist gespannt auf unsre neue gute Nachricht, die ich schon in einem Fax angedeutet hatte. Als ich ihr damals schrieb, daß wir von einer
Nachbargemeinde (Menzenschwand) anläßlich einer Benefizveranstaltung einen beträchtlichen Betrag für die Kinderklinik bekommen hätten, schrieb sie mir: "Ihre wunderbare Nachricht wehte wie ein warmer Wind über
unsere eingefrorenen Seelen". Genau dies kann ich nun sehr gut verstehen, in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit. Als ich dann noch berichte, daß der Klinik für ein ganzes Jahr durch die Firma B. BRAUN, Melsungen
Verbandsmaterial für die jährlich über 700 stationären und über 1000 ambulanten Verbrennungsopfer gespendet werden wird, und daß die Firma SCHILLER aus Berlin EKG-Geräte für die Kinderklinik zur Verfügung stellen
wird, schmilzt das Eis, das die Resignation und Hoffnungslosigkeit verursacht hat, total und fließt in Form von Tränen die Wangen herab. Das sind Momente, die all unserem Bemühen, unseren Anstrengungen einen Sinn
geben. Wie jedes Jahr habe ich wieder von einer treuen Todtnauerin Geld dabei, das ich zwei Frauen, die unter schwersten Bedingungen leben müssen und zudem noch Kinder haben, die sehr schwer krank sind und operiert
werden müssen, überreiche. Man kann es nicht fassen, eine Hilfe von fremden Personen, man glaubt an eine Hilfe vom Himmel.(ist das soweit hergeholt??) Wir besichtigen nun die Klinik, zuerst die cardiologische
Abteilung und sind hell begeistert, was sich dort alles tut. Es wird gestrichen, die von uns gebrachten PVC-Beläge sind auf den Böden, die Betten sind in den Zimmern, die Vorhänge sind angebracht, die Waschbecken
und Toiletten sind installiert. Wir haben eine Riesenfreude. Wenn diese Station fertig ist, werden wir die nächste in Angriff nehmen und zwar die Hepatitisstation, wo derzeit 62 Kinder auf engstem Raum untergebracht
sind. Lebererkrankungen, auch angeborene, nehmen immer mehr zu. Es fehlt natürlich an den entsprechenden Medikamenten, aber die sind für uns leider auch sehr schwer zu bekommen.
Nun gehen wir zur Verbrennungsstation, sogar in die Intensivabteilung läßt man uns eintreten. Was ich dort sehe läßt meine guten Vorsätze, keine
Schwäche zu zeigen, mit einem mal zunichte werden. Ein total verbranntes Kind, welches fürchterlich weint, muß frisch verbunden werden, der ganze Körper zeigt nur bloßes Fleisch. Im gleichen Raum ein neun Monate
altes Kind, die linke Körperhälfte total verbrannt, die linke Hand, ein verkohlter Klumpen, muß sehr wahrscheinlich amputiert werden. Daneben ein ca. 12-jähriger Junge, dessen Körper durch eine Gasexplosion bis zur
Unkenntlichkeit verbrannt ist, nur noch seine Augen schauen hell und angstvoll aus dem dunklen Gesicht. Er hat Schüttelfrost, und ich glaube kaum, daß er überleben wird. Da ist noch ein Kind, dessen Händchen an
einer Latte angebunden sind, damit die Rotlichtlampe die verbrannten Stellen austrocknen kann. Eigentlich will ich ein paar Photos für die Firma Braun machen, aber es gelingt mir kaum, da nun meine Tränen und meine
tiefe Betroffenheit dieses Vorhaben so gut wie verhindern. Ich gehe schnell aus dem Raum, denke, warum nur dieses Elend und versuche mich zu fassen. Jetzt fallen mir die häuslichen Gegebenheiten ein, das Bett direkt
neben dem Ofen... Ich brauche sehr lange um diese Bilder zu verkraften.
Am Nachmittag besuchen wir mit Herrn Natkrenitschny von der Caritas Moldova, der mich in Angelegenheiten Patenschaften sehr unterstützt, drei
Patenfamilien. Die Freude ist sehr groß, und die beiden querschnittsgelähmten Mädchen vergessen für einen Moment ihre unabänderliche Lage. Nach drei Stunden sind wir wieder in der Kinderklinik und werden schon
sehnsüchtig von der Kinderärztin, dem Chefarzt, einer weiteren Ärztin und deren Mann erwartet. Nachdem wir mitbekommen, daß wir in den Wald fahren wollen, können wir das verstehen, es wird ja bald dunkel. Ob es
einer glaubt oder nicht, wir machen tatsächlich im Winter bei Dunkelheit im Wald ein Picknick und grillen Fleisch. Das ist ein einmaliges Erlebnis, die Sterne stehen am Himmel, wir spüren die Kälte nicht, wir spüren
nur eine sehr enge Verbundenheit und innere Wärme. (Böse Zungen mögen jetzt behaupten, das war der Rotwein, vielleicht hat er auch dazu beigetragen, aber die tiefen, echten Gefühle haben mit Alkohol wenig zu tun).
Wir verbringen, nach Erlöschen der Glut noch einige Zeit in Gustis Zimmer und Nelia, die Kinderärztin fragt mich, warum tut ihr das für uns? "Aus Liebe", antworte ich ihr, ganz spontan, worauf sie mir
unter Tränen einen Ring, den sie in ihrer Kindheit von ihren Eltern bekommen hat, an meinen Finger steckt (dort soll er auch immer bleiben). Solche Augenblicke werden für immer in meinem Gedächtnis bleiben, und der
Ring wird mich mein Leben lang an die Verbundenheit mit den Armen erinnern.
Am Samstag sind wir noch mal zu Gast in Orhei. In der Klinik bei Dr. Siman gibt es Frühstück. Dr. Siman scheint müde und deprimiert zu sein. Er
erzählt uns, daß er die ganze Nacht einen Kollegen, der überfallen wurde, operiert habe. Am Tag zuvor wurde in ganz Moldavien der Lohn vom September ausbezahlt, und das selbstverständlich in bar, da es keine
Bankkonten gibt. Das wissen natürlich alle. Ihm wurde der Schädel eingeschlagen, und Dr. Siman weiß nicht, ob er überleben wird. Wir alle hoffen für ihn.
Am Nachmittag fahren wir zum Kloster, das der Bischof Joan Vulpe wieder aufbauen will. Mit durch unsere Hilfe wurden die Gebäude in den
Ländereien, wo angehende Priester ausgebildet werden und wohnen, schon etwas saniert.
Am Sonntag heißt es Abschied nehmen von unseren Freunden aus Rumänien, Gusti und Constantin. Zuvor sind wir noch beim Oberhirten der
moldavischen orthodoxen Kirche, dem Metropoliten Vladimir zum Essen eingeladen. Wir führen sehr gute Gespräche mit dem etwas zurückhaltend anmutenden Kirchenoberhaupt und können inzwischen sein Verhalten verstehen,
das uns beim letzten Transport sehr gestört hat. Man darf eben Menschen nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen, sondern man sollte stets das Positive voranstellen. Wieviel Leid und Haß würde man damit vermeiden?
Aber ich muß auch gestehen, daß mir das nicht immer gelingt, auch ich bin sehr beeinflußbar von negativen Stimmungen.
Auf dem Bahnsteig weht ein bissig kalter Wind, als wir Gusti und Constantin verabschieden. Wir hatten viele gute Gespräche bis tief in die Nacht
hinein und auch gemeinsame Zukunftspläne, wenn sie sich verwirklichen lassen. Natürlich für all die Armen, Rechtlosen und Bedürftigen. Es ist eine Gnade solche Freunde zu haben. Mit traurigem Herzen, aber in der
Hoffnung, daß wir uns im Mai wiedersehen, verlassen wir den Bahnhof. Wir wollen eigentlich nur noch in unser Bett, doch Dr. Manolache möchte, daß wir seiner Frau noch guten Tag sagen. Sie ist auf unseren Besuch
nicht vorbereitet, freut sich aber von Herzen und deckt sogleich den Tisch. Sie bringt zwei Teller mit ein paar Scheibchen Wurst und Käse, etwas Brot und Rotebeetesalat. Herr Dr. Manolache sucht verzweifelt nach
zwei Flaschen Sekt der gleichen Marke, ohne Erfolg. Mein Bruder und ich sind die einzigen, die etwas essen. Wir wollen ja nicht mehr, aber zeigt uns das nicht, daß auch der erste Herzchirurg in Moldavien nicht mehr
im Kühlschrank hat, als er gerade braucht? Dafür aber haben diese Menschen ein unheimlich weites, großes Herz, was so vielen bei uns fehlt. Man hat mich gefragt, ob ich lieber in Amerika oder in Moldavien leben
würde, ich habe mich spontan für Moldavien entschieden. Nun werden viele sagen, "die ist verrückt". Auch mein Bruder, der mich jetzt so sehr unterstützt, hat so gedacht, bis er einmal mit dabei war. Und
nun ist auch er gefesselt.
Die Stunden, die Kontrollen im Flughafengebäude vor unserer Rückreise möchte ich hier nicht ausführlich beschreiben. Mit kurzen Worten: kalt,
unmenschlich, traurig.
Dankbar, glücklich, gelöst und mit einem unbändigen Drang sofort zur Tat zu schreiten, alles mögliche in die Wege zu leiten, um den Menschen
dort drüben das Leben zu erleichtern, fahren wir nach Hause, in unsre heile Welt ??????
Ursula Honeck, Februar 97
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