DIE ENTSCHEIDUNG
„... Heute habe Ich euren Glauben fuer euch vervollkommnet und Meine Gnade an euch vollendet und euch den Islam zum Glauben erwaehlt ...“ (5:3)
Ich wurde 1967 in einer Kleinstadt im
Sauerland geboren. Mein 1 ½ Jahre juengerer Bruder und ich wuchsen
auf dem Lande auf, wo meine Eltern und meine Grosseltern zusammen ein 2-Familien-Haus
bewohnen. Mein Opa war Grundschulleiter. Mein Vater waere gerne Foerster
geworden. Statt dessen ist er heute Oberstudienrat. Die Natur liebt er
immer noch ueber alles. Dagegen scheint er sehr zum Kummer meiner Oma die
Liebe zu Jesus Christus im Laufe der Jahre verloren zu haben.
Meine Oma war immer ein tief glaeubiger
Mensch. Sie gehoert zu einer evangelischen Freikirche. Von Jugend an hat
sie sich aktiv in der Gemeindearbeit engagiert und sich nach Kraeften bemueht,
ihren Kindern ein christliches Vorbild zu sein. Mein Opa dagegen ist weniger
glaeubig. Eine Erkenntnis, die meiner Oma erst im Laufe der Ehe zuteil
wurde. Regelmaessiger Kirchgang ist eben noch kein hinreichendes Indiz
fuer eine christliche Grundeinstellung. Bis heute folgen gemeinsamen Gottesdienstbesuchen
der beiden hitzige Diskussionen ueber den christlichen Glauben im Allgemeinen
und den Inhalt der letzten Predigt im Besonderen.
Diese Situation ist auch an ihren Kindern
nicht spurlos voruebergegangen. Tatsaechlich besucht heute nur noch einer
ihrer drei Soehne eine christliche Gemeinde.
Meine Mutter dagegen stammt aus einem
Elternhaus, in dem Froemmigkeit so selbstverstaendlich war, wie das taeglich
Brot und der taegliche Schlaf. Glaube stand nie zur Diskussion. Eigentlich
stand ueberhaupt nie etwas zur Diskussion. Besonders meine Mutter, Nesthaekchen
und einzige Tochter, wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Selbstverstaendlich
wurde sie Verkaeuferin im elterlichen Geschaeft - ihr Vater war Baeckermeister,
und wozu hat man schliesslich eine Tochter. Bis heute bedauert sie, dass
sie nichts anderes lernen durfte.
Und ebenso selbstverstaendlich heiratete
meine Mutter spaeter auch meinen Vater. Der Lehrerssohn war eine gute Partie
in der Jugendgruppe der christlichen Gemeinde. Und der gemeinsame Glaube
galt als sicheres Fundament fuer eine gute Ehe. Auf Fels gebaut!
Aber gerade dieser Fels war es, der
im Laufe der Jahre zuerst ins Wanken geriet. Waehrend meine Oma als erste
Frau in den Aeltesten Rat gewaehlt wurde, traten meine Eltern nacheinander
aus der Gemeinde aus. Und irgendwann einmal gab es kaum noch Gemeinsamkeiten.
So haben sie nach zwanzig Ehejahren und etlichen vergeblichen Versuchen,
miteinander auszukommen, in beiderseitigem Einvernehmen das Handtuch geworfen.
1986 wurde ihre Ehe geschieden.
Sehr zum Bedauern meiner Oma ist auch bei meinem Bruder und mir nicht viel vom christlichen Glauben haengengeblieben. Wir besuchten zwar Bibelunterricht und Jugendstunden, traten der christlichen Gemeinde jedoch nie bei. Tatsaechlich sind wir noch nicht einmal getauft. Die Freikirche kennt keine Kindertaufe, sondern tauft nur religionsmuendige Menschen, die sich aus freien Stuecken zum Christentum bekennen. Als wir in das entsprechende Alter kamen, entschieden wir uns beide gegen die Taufe.
Nicht, dass mich Religion nicht interessiert
haette. Sie hatte fuer mich immer etwas Faszinierendes, etwas Sinngebendes.
Das Christentum bietet da einen akzeptablen Ansatz: den Glauben an einen
Gott, der mit der Menschheit in Verbindung tritt, indem er Propheten schickt.
So lehrte Gott die Menschen, wo sie stehen und wie sie miteinander und
mit ihrer Umwelt umgehen sollten.
Ich stellte jedoch bald fest, dass
die „christlichen“ Werte sehr schnell relativiert werden koennen. Was besagt
denn die christliche Lehre? Jeder Mensch ist suendig, Erbschuld belastet
von Geburt an. Gott hat seinen Sohn geschickt in die Welt, um zu leiden
und zu sterben am Kreuze und uns so zu erloesen von der Last unserer Schuld.
Der Gottessohn, der zugleich Mensch und Gott ist. Zu wem hat er so inbruenstig
gebetet am Oelberg? Sein Erscheinen wurde zum Wendepunkt der Geschichte,
der die Menschheit teilt in „vor“ und „nach“ Christus. Denn allein der
Glaube an ihn erloest. Sagte er nicht selbst: „Ich bin der Weg, die Wahrheit
und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Johannes 14,
6)
Das Jenseits hat mit Jesu Tod den Schrecken
verloren. Gott ist Liebe, wie kann es da eine Hoelle geben? Als Druckmittel
der Kirche, um die Glaeubigen bei der Stange zu halten, hat der Teufel
jedenfalls ausgedient.
Die Werte des heutigen Christentums
beschraenken sich weitgehend auf die Naechstenliebe. Solange ich niemandem
schade, ist alles erlaubt. Jesus sagt: “Ihr sollt nicht waehnen, dass ich
gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuloesen; ich bin nicht
gekommen aufzuloesen, sondern zu erfuellen.“ (Matthaeus 5, 17)
Das scheint jedoch im modernen Christentum
das gleiche zu sein. „Gebote“ gelten als antiquiert. Die heutige Christenheit
versteht sich als modern. Die Kirche geht mit der Zeit. Wenn auch nicht
ganz schnell genug fuer den Geschmack ihrer Mitglieder.
Die Bibel hat dabei kaum noch Gewicht.
Man kann vermutlich noch einige Wahrheiten finden in diesem Buch. Aber
welche? Wer entscheidet, was wahr ist und was nicht? Wer entscheidet, was
gueltig ist und was nicht? Die Kirche? Die Theologen? Oder jeder fuer sich
selbst? Bastelt sich so nicht jeder auf die eine oder andere Weise nach
bestem Wissen und Gewissen seinen eigenen Glauben zusammen? Seien wir doch
ehrlich und nennen wir das Ergebnis nicht mehr Christentum. Nennen wir
es „Bjoern“tum, „Claudia“tum, oder wie auch immer der Name lauten mag.
Ueberzeugte Christen werden jetzt natuerliche
protestieren. Sie werden sagen, die gemeinsamen Grundlagen sind doch da.
Wo denn? Die eigentliche Offenbarung Gottes, das, was er Jesus von Nazareth
mitteilte, wo ist sie? In der Bibel wurde ihr noch nicht einmal ein Kapitel
gewidmet.
Zentrale Glaubensaussagen, die die
Kirche spalten, wurden abgeleitet aus historischen Berichten und Briefen,
beschlossen auf theologischen Konferenzen oder einfach zur Staatsdoktrin
erklaert.
Und wie oft habe ich gehoert: “Das
kannst Du nicht verstehen. Das musst Du eben glauben.“
Ich glaube, dass Gott uns den Verstand
gegeben hat, damit wir ihn gebrauchen. Und ich glaube, dass eine Botschaft
Gottes, so sie hinterfragt wird, mehr Antworten bieten muss, als das.
Das sagte ich auch unserem Religionslehrer,
als meine Klasse kurz vor dem Abitur ein Wochenende im Kloster verbrachte.
„Besinnungstage“ nannte sich das. Der Lehrer ueberraschte mich mit seiner
Antwort. Er sagte mir: “Gott laesst dich nicht los. Du wirst schon sehen.“
Er sollte recht behalten. Auch wenn
er sich das vermutlich etwas anders vorgestellt hatte.
Denn mein Interesse an Gott und Religion
holte mich wieder ein, als mir der Islam begegnete. Ich war nach dem Abitur
in die Grossstadt gezogen, um ein Wirtschaftsstudium an der Universitaet
aufzunehmen. Damals dachte ich noch, Betriebswirtschaftslehre zu studieren
sei im Hinblick auf eine zukuenftige Karriere eine vernuenftige Entscheidung.
Zwar interessierte ich mich nicht sonderlich fuer das Fach, aber die Studienzeit
wuerde schon voruebergehen. Tatsaechlich jedoch waren schon die ersten
Tage deprimierend. Ueberfuellte stickige Hoersaele, langweilige Vortraege,
gehalten von gelangweilten Professoren - „Schlagen Sie bitte Seite 17 meines
Buches auf. Wir lesen dort ...“ - vor ebenso gelangweilten Studenten -
„Hast Du gesehen, was die lange Blonde in der dritten Reihe heute wieder
an hat?“ - „Hast Du mal Feuer?“
Das Leben als Studentin dagegen war
von Anfang an hoch interessant fuer mich. Ich hatte bisher nur in der Kleinstadt
gelebt. Ja, selbst waehrend meines Jahres als Austauschschuelerin in den
USA hatte ich dort in einem winzigen Provinzstaedtchen gewohnt. Sonntaeglicher
Kirchgang: Pflicht!
An der Universitaet schien sich mir
nun eine neue Welt zu erschliessen. Ich fand es spannend, neue Menschen
kennenzulernen und mit ihnen ueber Gott und die Welt zu diskutieren. Darunter
waren auch einige auslaendische Studenten, die von zu Hause aus Muslime
waren. So kam das Thema Islam zur Sprache.
Grundsaetzlich fand ich die Vorstellung
amuesant, dass heute tatsaechlich noch Menschen ernsthaft an einem mittelalterlichen
Gesetz festhalten. Aber in der Praxis sah dann alles etwas anders aus.
Das Leben von auslaendischen Studenten in Deutschland hat nun gar nichts
mit Tausendundeiner Nacht zu tun.
Am Anfang hatte ich meine muslimischen
Nachbarn im Studentenwohnheim noch scherzhaft gefragt, warum Tomaten nicht
geschaechtet werden muessen, also entsprechend dem islamischen Ritus geschlachtet.
Oder warum ein Muslim, der vor dem Essen Gottes gedenkt und nach dem Essen
ein Dankgebet spricht, nicht das gleiche tut, wenn er in der Kneipe ein
Bierchen trinkt.
Aber je mehr ich vom Islam sah und
hoerte, desto weniger Lust verspuerte ich, mich ueber die Muslime lustig
zu machen. Tatsaechlich war mir die Religion gar nicht so fremd, wie ich
immer gedacht hatte. Ich fand viel von dem wieder, was mich im Christentum
immer angezogen hatte.
Vor allem war da natuerlich der Glaube
an Gott. Der Islam ist eine strikt monotheistische Religion. Es gibt nur
einen Gott. Gott, das heisst auf arabisch „Allah“. Dieser Begriff bedeutet
tatsaechlich nichts anderes als „der Gott“ und wird auch in der arabischsprachigen
Bibel verwendet.
Ein Muslim glaubt ebenso wie ein Christ,
dass Gott Propheten gesandt hat, um der Menschheit den rechten Weg zu weisen.
Da tauchten Namen auf, die mir wie alte Bekannte erschienen: Noah, Abraham,
Moses, Jonas, aber auch Zacharias, Johannes und Jesus.
Ich erfuhr, dass Muhammad, der Sohn
Abdellahs, der im 5. Jhd. nach Christus auf der arabischen Halbinsel lebte,
der letzte der Propheten gewesen sei. Er habe den Koran verkuendet. Und
darauf wiederum stuetzt sich die gesamte islamische Lehre, das gesamte
islamische Gesetz, das gesamte islamische Leben.
Ich begann, mich mit diesem Koran zu
beschaeftigen. „Dies ist das Buch, an dem es keinen Zweifel gibt; eine
Rechtleitung fuer die Gottesfuerchtigen“ (2:2) heisst es dort ueber den
Koran selbst.
Unbezweifelt, auch von nicht-muslimischen
Wissenschaftlern, ist zumindest die Authentizitaet des Koran. Tatsaechlich
war es dieser Text, den Muhammad vor knapp 1500 Jahren mangels eigener
Schreibkenntnisse seinen Weggefaehrten diktierte. Sprachlich gilt er als
Wunder. Die religioesen Inhalte wurden in einer kunstvollen poetischen
Form verkuendet. Bis heute setzt der Koran den Massstab fuer das klassische
Arabisch schlechthin.
Der Inhalt des Koran ist mindestens
ebenso bemerkenswert wie die Form. Er ist keineswegs nur ein „arabisches
Geschichtsbuch“, wie es eine bekannte Islamwissenschaftlerin in den Medien
so gerne beschreibt. Ganz im Gegenteil dokumentiert er ein erstaunliches
Wissen ueber die Natur, die Gesellschaft, ueber schlechthin alles, was
das menschliche Leben in irgendeiner Form betrifft.
Bereits in der ersten Verkuendung heisst
es:“ ... Lies, und Dein Herr ist der Allguetige, Der ... den Menschen gelehrt
hat, was er nicht wusste.“ (96:3-5)
Wussten Sie beispielsweise, dass der
Koran in der Josephs-Geschichte ueber einen Koenig, in der Moses-Geschichte
ueber einen Pharao spricht? Warum das so ist, wissen wir, seit es dem franzoesischen
Altgeschichtler Jean François Champollion mit Hilfe des Steins von
Rosette gelungen ist, die altaegyptische Hieroglyphenschrift der modernen
Wissenschaft zugaenglich zu machen.
Gegen Ende des Mittleren Reiches hatten
urspruenglich aus Asien kommende Volksstaemme, die Hyksos, den noerdlichen
Teil des heutigen Aegyptens besetzt und dort ein Koenigreich errichtet.
In diese Zeit faellt demnach die Josephsgeschichte. Unter den Hyksos stieg
Joseph zum Berater des Koenigs auf. Und unter den Hyksos wanderte das Volk
Israel nach Aegypten ein, wo man es herzlich willkommen hiess.
Im 16. Jahrhundert vor Christus, in
der Regierungszeit des Pharaos Ahmose, gelang es den Aegyptern, den Norden
des Landes zurueckzuerobern. Die Israeliten fielen als Helfer der verhassten
Besatzungsmacht in Ungnade. So erklaert sich, dass das israelitische Volk
zur Zeit Moses in Aegypten versklavt und unterdrueckt war.
Im Koran wird ganz selbstverstaendlich
begrifflich zwischen dem Koenig der Hyksos-Zeit und dem Pharao der Aegypter
unterschieden.
Ueber den Pharao der Mosesgeschichte
heisst es weiter: “Heute werden wir deinen Leib erretten, damit Du ein
Zeichen sein moegest fuer die, die dir nachfolgen. Doch viele unter den
Menschen sind unseren Zeichen gegenueber achtlos.“ (10:92) Eine Anspielung
auf die Mumifizierung des Pharaos.
Oder betrachten Sie die Aussagen des
Koran zur Schoepfung: „Sehen denn diejenigen, die unglaeubig sind, nicht,
dass die Himmel und die Erde eine zusammenhaengende Masse waren, die Wir
dann teilten, und dass Wir alles Lebendige aus Wasser gemacht haben? Wollen
sie also nicht glauben?“ (21:30) Das entspricht exakt dem neuesten Forschungsstand.
Und wussten Sie, dass wir laut Koran
nicht auf der Erde leben, sonder „in“ ihr? Ein Hinweis auf die zur Erde
gehoerende Atmosphaere, ohne die wir nicht existieren koennten. Schliesslich
bewegen wir uns dadurch, dass die Erde sich dreht, staendig mit einer enorm
hohen Geschwindigkeit durchs All. Stellen Sie sich nur einmal den „Fahrtwind“
vor.
Der Koran beschreibt Phaenomene der
Natur von Wolkenbildung bis hin zu den embryonalen Entwicklungsstadien
des Menschen, von der Verdauungschemie bis hin zur Ausdehnung des Universums.
Bisher gibt es aus wissenschaftlicher Sicht nichts gegen die entsprechenden
koranischen Texte einzuwenden. Ganz im Gegenteil koennen koranische Aussagen
zum Teil erst mit Hilfe der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse in
ihrem vollen Bedeutungsgehalt verstanden werden. Immer wieder wird der
Mensch dazu aufgefordert, zu sehen, zu hoeren und zu verstehen.
Mit Hilfe dieses Korans gelang es arabischen
Beduinen und Kaufleuten, ein gesellschaftliches System zu errichten, in
dem Kultur und Wissenschaft erbluehten. Und das zu einer Zeit, in der in
Europa das dunkelste Mittelalter herrschte.
Ueber den Glauben selbst heisst es im
Koran: „Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist nun klar
erkennbar geworden vom unrichtigen. Wer also nicht an falsche Goetter glaubt,
an Gott aber glaubt, der hat gewiss den sichersten Halt ergriffen, bei
dem es kein Zerreissen gibt. Und Gott ist hoerend, wissend.“ (2:256)
Tatsaechlich ist die islamische Theologie
so klar, wie das Glaubensbekenntnis: “Es gibt keinen Gott ausser Gott,
und Muhammad ist sein Prophet.“
Erbsuende? So etwas kennt der Islam
nicht. „ ... Und was sich jede Seele erworben hat, wird (dereinst) niemandem
ausser ihr selbst zuteil, und keine Lasttragende wird (dann) die Last einer
anderen tragen...“ (6:164) heisst es im Koran. Nachdem Adam und Eva gesuendigt
hatten, lehrte Gott die Reue. Der reuige Mensch begegnet dem barmherzigen
Gott. Hier ist kein stellvertretendes Opfer noetig.
Gottes Sohn? „Sprich: Er ist der Gott,
der Einzige, der Gott, der Ewigwaehrende, Er zeugt nicht und ist nicht
gezeugt, und es gibt niemanden, der Ihm gleicht.“ (112) Jesus von Nazareth
war ein Prophet, nicht mehr und nicht weniger.
Ein Wendepunkt der Geschichte? Ganz
und gar nicht. Im Gegenteil, die Geschichte beweist eine ungebrochene Kontinuitaet.
Von Anbeginn gab es nur die eine Religion, die Hingabe an den einen Gott,
auf Arabisch: „Islam“. Diese Religion wurde von allen Propheten Gottes
verkuendet, auch von Abraham, Moses und Jesus. Der Prophet Muhammad war
der letzte dieser Propheten, und doch war er ein Mensch wie Sie und ich.
Die Ansprache, die sein Freund Abu Bakr Siddiq anlaesslich seines Todes
hielt, ist uns bis heute erhalten geblieben: “Sodann, wer von euch Muhammad,
Gottes Segen und Heil auf ihm, angebetet hat, der soll wissen, dass Muhammad,
Gottes Segen und Heil auf ihm, tot ist. Wer aber Gott angebetet hat, wahrlich,
Gott ist lebendig und unsterblich.“ Und dann rief er den Menschen folgenden
Koranvers ins Gedaechtnis: “Muhammad ist nichts anderes als ein Gesandter,
dem andere Gesandte vorausgegangen sind. Wenn er also sterben oder getoetet
werden sollte, werdet ihr dann auf euren Fersen kehrt machen? Und wer auf
seinen Fersen kehrt macht, wird Gott nicht den geringsten Schaden zufuegen.
Und Gott wird die Dankbaren reichlich belohnen.“ (3:144)
Die Kirche? Gibt es in diesem Sinne
ueberhaupt nicht. Keine Organisation, keine Hierarchie, keine Sakramente.
Predigen kann jeder Muslim. Ebenso, wie jeder eine Ehe schliessen oder
ein Totengebet sprechen kann.
Schriftauslegung? Ueber die zentralen
Glaubensaussagen sind sich die Muslime einig. Gott ist Gott, die Propheten
waren Menschen. Der Koran ist Gottes Wort, ebenso wie auch die Buecher
der anderen Propheten Gottes Wort waren. Die Engel sind ebenso real wie
die Auferstehung.
Islamgelehrte beschaeftigen sich im
Unterschied zu ihren christlichen Kollegen eher mit der praktischen Anwendung
religioeser Grundsaetze. Sie geben theologische Gutachten auf der Grundlage
von Koran und Sunna, dem Vorbild des Propheten Muhammad, heraus. Ein solches
Gutachten nennt man „Fatwa“. Da jedoch kein Islamgelehrter in irgendeiner
Form eine gottgegebene Autoritaet hat, gibt eine Fatwa immer nur die persoenliche
Meinung des betreffenden Gelehrten wieder und hat keinerlei verbindlichen
Charakter. Man kann ihr folgen oder auch nicht.
Weltweit bekennt sich etwa eine Milliarde
Menschen zu diesem Glauben. Und der Islam hat bis heute nichts von seiner
Anziehungskraft verloren.
Das arabische Wort „Islam“ hat den
gleichen Wortstamm wie das Wort „Salam“, Friede. Islam bedeutet so auch,
Frieden zu finden, mit Gott, der Welt und sich selbst.
Ich lernte und staunte. Und doch wollte
ich die Wahrheit nicht wahr haben. Denn der Islam ist nicht gerade eine
bequeme Religion. Ich hatte schlicht und einfach keine Lust, Muslim zu
werden. Das war mir viel zu anstrengend. Denn Islam, das ist etwas Reales,
etwas, das in jede Faser des Lebens eindringt, es durchzieht und veraendert.
Das Christentum dagegen hat heutzutage manchmal einen Hauch von Weltfremdheit.
Wohldosierte Froemmigkeit, die man zum Kirchgang anlegt wie ein Sonntagskleid
und dann fuer den Rest der Woche im Schrank verstaut.
Trotzdem begann ich nach einiger Zeit,
den Islam in der Praxis auszuprobieren. Ich fastete im Monat Ramadan zusammen
mit meinen muslimischen Nachbarn, das heisst, ich ass und trank vom Anbruch
der Morgendaemmerung bis zum Sonnenuntergang nichts. Und jeden Abend traf
ich mich mit meinen Nachbarn, um gemeinsam das Fasten zu brechen. Teilweise
kochten wir sogar gemeinsam. Besonders ein Aegypter, Mohamed, kochte ganz
ausgezeichnet. Es war auch Mohamed, der mich etwa in der Mitte des Monats
beiseite nahm. Er hatte sich ein Herz gefasst, denn in religioesen Fragen
gibt es keine Scham, und erklaerte mir, dass es da eine Zeit gaebe, in
der Frauen nicht fasten. Schliesslich begriff ich, dass er von der Periode
sprach. Nun, fuer diesen Ramadan kam die Aufklaerung etwas zu spaet. Was
ich aber nicht weiter schlimm fand.
An diesen Abenden im Ramadan hatte
ich auch Gelegenheit, das Gebet zu beobachten. Und auch das probierte ich
aus. Ich uebte in meinem Zimmer, betete so, wie ich es bei den anderen
gesehen hatte, verbeugte mich und warf mich nieder. Da ich den Text, der
gesagt wird, nicht kannte, improvisierte ich mit dem „Vater Unser“.
Mit diesem Ramadan begann ich auch,
meinen Konsum an Alkohol und Schweinefleisch zu reduzieren. Und einmal
bin ich sogar mit Kopftuch in der Innenstadt spazieren gegangen, nur um
zu sehen, wie man sich als Kopftuchtraegerin so fuehlt.
Schliesslich erfuhr ich sogar, wozu
die Palaestinenser im Studentenwohnheim immer eine Wasserflasche auf der
Toilette deponierten. Fuer Muslime ist es selbstverstaendlich, sich nach
dem Gang zur Toilette zu waschen. Da in Deutschland im Gegensatz zu den
muslimischen Laendern Toiletten in der Regel nicht mit Handbrausen oder
aehnlichen Vorrichtungen ausgestattet sind, wird mit einer Wasserflasche
improvisiert. Wie laecherlich klingt im Vergleich dazu der Werbeslogan
einer bekannten Firma fuer feuchte Reinigungstuecher: “Wie frisch gewaschen!“
Die meisten Muslime in meiner Umgebung
fanden mein Interesse am Islam recht merkwuerdig. Tatsaechlich nahmen viele
von ihnen es selbst mit den islamischen Vorschriften nicht so genau. Immer
wieder hoerte ich: “Natuerlich bin ich Muslim. Wenn ich zu Hause waere,
in meinem Land, dann wuerde ich auch nach dem Koran leben. Aber hier in
Europa ist alles anders. Ich bin doch noch jung. Und fuer Froemmigkeit
habe ich spaeter noch Zeit.“
Auf der anderen Seite gab es aber auch
einige wenige Leute, die sich sehr darum bemuehten, ihren Glauben konsequent
zu leben. Einer meiner Nachbarn im Studentenwohnheim gehoerte zu dieser
Kategorie. Eben dieser Mohamed, der so gut kochte und mich im Ramadan zur
Seite genommen hatte. Mohamed hatte in Aegypten ein Studium der Biophysik
abgeschlossen und war nach Deutschland gekommen, um seine Doktorarbeit
zu schreiben. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, war er erst seit sechs
Monaten in Deutschland und besuchte einen Deutschkurs an der Universitaet.
Seine Religion, der Islam, bedeutete
ihm einfach alles. Er hatte sich bereits ein umfangreiches Wissen zum Thema
Islam angeeignet. Mohamed galt auch unter den Arabern im Wohnheim als ganz
grosse Ausnahme. Sie nannten ihn ihren „Scheich“. Ein Titel, der meist einen
aelteren frommen Mann bezeichnet, und so gar nicht zu einem
24jaehrigen, sportlichen jungen Mann mit widerspenstigen schwarzen Locken
passen wollte. Mohamed selbst war auch nicht gerade angetan von diesem Spitznamen.
Er sagte mir einmal, die Verantwortung, die damit verbunden sei, sei ihm
zu gross.
Tatsaechlich kam jeder, der irgendeinen
Rat oder eine Hilfe brauchte, zum „Scheich“. Sei es nun, dass ein Student
ein Zimmer brauchte, dass jemand ins Krankenhaus musste oder auch nur seine
alten Lehrbuecher verkaufen wollte. Alles lief ueber Mohamed.
Der Anfang unserer Bekanntschaft gestaltete
sich eher schleppend, da Mohamed sich nach Kraeften bemuehte, seinem Ruf
als vorbildlicher Muslim gerecht zu werden. So ging er nach Moeglichkeit
jeglicher Versuchung aus dem Wege. Und dazu gehoeren fuer einen praktizierenden
Muslim nun einmal auch Frauen. Bald siegte jedoch sein religioeses Engagement.
Kann man jemanden, der sich fuer den Islam interessiert, zurueckweisen?
Fuer mich war er ein interessanter
Gespraechspartner. Einen so aufgeschlossenen Menschen hatte ich selten
getroffen. Wir diskutierten immer haeufiger Religion im Allgemeinen und
den Islam im Besonderen. Selbstverstaendlich nur an „neutralen Orten“,
bzw. in Mohameds Zimmer - bei sperrangelweit geoeffneter Tuer. Das, um
auch erst gar keine falschen Vermutungen ueber die Art unserer Beziehung
aufkommen zu lassen.
Wir lernten viel voneinander in dieser
Zeit. Und wir begannen, die Welt durch die Augen des anderen zu sehen.
Mohamed wurde einer meiner verlaesslichsten
Freunde.
Was das Studium anging, so hatte ich
in der Zwischenzeit endgueltig das Interesse an der Wirtschaft verloren.
Die letzten Pruefungen waren auf Grund meines mangelnden Engagements auch
nicht gerade gut ausgefallen. So beschloss ich denn, mein Hobby zum Studienfach
zu machen. Ich begann, Islamwissenschaften zu studieren. Ein guter Abschluss
im neuen Fach wuerde mir spaeter mehr bringen, als ein schlechter in Wirtschaft.
Notgedrungen willigte schliesslich auch mein Vater in den Fachwechsel ein.
Und ploetzlich lief das Studium viel zuegiger. Mir wurden einige Scheine
aus der Wirtschaftszeit fuer mein Nebenfach Soziologie angerechnet. Und
mein neues Fach machte mir viel Spass. Es bot auch neuen Diskussionsstoff
fuer Mohamed und mich. Er zeigte gleich Interesse am islamwissenschaftlichen
Studium in Deutschland: “Ich kann mir ja mal anhoeren, was die euch hier
so erzaehlen. Meinem Deutsch kann es ja nur nuetzen.“
Mir widerum nuetzte sein Interesse sehr. Er
half mir bei meinen Hausaufgaben in Arabisch und erklaerte mir geschichtliche
Zusammenhaenge. Tatsaechlich stellte sich heraus, dass Politik und Geschichte
schon immer sein grosses Hobby gewesen waren. Ich dagegen hatte mich nie
sonderlich dafuer interessiert. Selbst heute noch staunt Mohamed manchmal
ueber die vielen Dinge, die ich nicht weiss.
In dieser Zeit schlug ich mich endgueltig
auf die Seite der Muslime. Ich begann, mich in der Universitaet mehr und
mehr ueber die nicht-islamischen Dozenten und Professoren zu aergern, die
den Muslimen gegenueber einen eher spoettischen ueberheblichen Ton an den
Tag legten. Trotzdem konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen,
jemals selbst Muslima zu werden. Was fuer arabische Maenner gut ist, muss
nicht auch fuer deutsche Frauen gut sein. Schliesslich komme ich ja aus
einer ganz anderen Welt, als die Araber, Tuerken und Iraner. Wie kann eine
deutsche Frau als Muslima leben? Ich hatte zwar von solchen Frauen gehoert,
aber bisher noch keine getroffen. Das dachte ich wenigstens. Bis ich kurz
vor den Semesterferien mehr oder weniger zufaellig herausfand, dass eine
meiner Mitstudentinnen aus dem Arabischkurs eine deutsche Muslima war.
Es war kalt im Winter. Und jedesmal,
wenn sie den Seminarraum verliess, zog sie sich ihren Schal ueber den Kopf.
Irgendwann fragte ich sie, ob das noch andere Gruende haette, als nur die
Kaelte. Es hatte.
Heide war Lehrerin, verheiratet
mit einem Muslim aus den Libanon und hatte bei ihrem Uebertritt zum Islam
den Namen Khadidscha angenommen. Sie nahm im Rahmen eines Aufbaustudiums
der Auslaenderpaedagogik an unserem Arabischkurs teil.
Von ihr erfuhr ich, dass es in meiner
Stadt eine deutschsprachige Gruppe islamischer Frauen gab. Kurz entschlossen
nahm ich ihre Einladung an, sie einmal in diese Gruppe zu begleiten.
Und von da an ging alles sehr schnell.
Als der verabredete Tag gekommen war,
trafen Heide und ich uns in der Innenstadt. Sie nahm mich im Auto mit zum
Treffen. Diesmal trug sie ein „richtiges“ Kopftuch, das sie elegant um
den Kopf geschlungen hatte. Oberhalb der Stirn war es mit Perlen bestickt.
Auch ich hatte ein Tuch in der Tasche. Ich war ein bisschen nervoes. Wie
wuerde man mich als „Nicht-Muslima“ empfangen? Was fuer Frauen wuerde ich
dort treffen?
Heide nahm mir meine Sorge. Gaeste
seien gern gesehen, und ein Kopftuch wuerde ich nun wirklich nicht brauchen.
Heide war zwar auch noch neu im Islam,
kannte sich aber bereits ausgezeichnet aus in den islamischen Kreisen in
unserer Stadt. „Halbe Sachen“ waren nicht ihr Ding. So war sie bereits
im Gespraech, eventuell an einer islamischen Schule zu unterrichten.
Sie erklaerte mir unterwegs, was mich
beim Treffen erwarten wuerde.
„Die Gruppe besteht aus etwa 30 Frauen
deutscher und tuerkischer Herkunft. Sie treffen sich einmal in der Woche
in den Raeumlichkeiten eines tuerkisch-islamischen Vereins. Die Gruppenleiterin,
Maryam, ist eine etwa fuenfzigjaehrige deutsche Muslima, die lange Jahre
mit ihrem Mann in der Tuerkei gelebt hat. Dort haben sich beide fuer den
Islam engagiert. Maryam, mittlerweile verwitwet, setzt dieses Engagement
in Deutschland fort. Sie haelt regelmaessig Vortraege ueber den Islam und
hat diese Gruppe ins Leben gerufen. Maryam selbst erzaehlt etwas ueber
den Islam, danach setzen sich die Frauen, die noch Lust haben, gemuetlich
zusammen und unterhalten sich. Fuer Kaffee und Kuchen sorgen wir selbst.“
Heide hatte in dieser Woche einen Kuchen
gebacken. Der war etwas spaet fertig geworden, weshalb sie eilig war: „Maryam
sieht es nicht gern, wenn man zu spaet kommt.“
Um so aergerlicher war es, als wir
feststellen mussten, dass in der Naehe des Vereinshauses bereits die ganze
Strasse zugeparkt war. Heide fuhr kurz entschlossen in den Hof. Wir hatten
Glueck. Einer der wenigen Parkplaetze in der Einfahrt wurde genau in diesem
Moment frei und ein freundlicher, tuerkisch aussehender Herr winkte uns
ein.
Ich war fasziniert von dem Betrieb.
„Alle gehen zum Treffen?“ Heide lachte: “Schoen waer’s.“ Natuerlich gingen
nicht alle zum Treffen. Heide erklaerte mir, dass es hier am Wochenende
immer so voll sei. Schliesslich habe der tuerkische Verein auch eigene
Veranstaltungen.
Das deutschsprachige Treffen fand in
einem separaten Gebaeudeteil statt. Schon als wir den Flur betraten, wurden
wir mit grossem Hallo begruesst: „Hallo, Khadidscha.“ „Wie geht es Dir?“
„Oh, hast Du wieder einen Deiner leckeren Kuchen mitgebracht?“ „Die anderen
sind in der Kueche.“ „Der Vortrag faengt gleich an.“ Frauen mit Kopftuechern
und langen Kleidern liefen geschaeftig hin und her. Und immer wieder ertoente
der arabische Gruss: „As-Salamu Alaykum“ - „Friede sei mit Euch.“
Auch ich wurde herzlich empfangen und
auf beide Wangen gekuesst. Gaeste waren tatsaechlich gern gesehen. Die
Frauen fanden es gut, dass sich jemand in die „Hoehle des Loewen“ gewagt
hatte, um einmal zu sehen, wie die Muslime wirklich sind.
Diese Gruppe schien nicht nur ein Treffpunkt
fuer deutschsprachige muslimische Frauen zu sein, sondern auch als Anlaufstelle
fuer am Islam interessierte Deutsche zu fungieren.
In diesem Sinne war ich genau am richtigen
Platz.
Wir waren wirklich spaet dran. Der Vortrag
fing direkt an. Heide-Khadidscha brachte ihren Kuchen in die Kueche. Dann
betraten wir den Seminarraum.
Der laengliche, mit grauem Teppichboden
ausgelegte Raum war nicht moebliert. Nur ein kleines Buecherregal stand
an der Wand. Die Frauen bildeten einen Kreis auf dem Boden. Ihre Schuhe
hatten sie draussen vor der Tuer gelassen, wie es in Moscheen und selbst
in muslimischen Privathaeusern allgemein ueblich ist.
Maryam, die Gruppenleiterin, hatte
mehrere Buecher vor sich auf dem Boden liegen. Sie war eine mollige Dame
mit strahlend blauen Augen, die freundlich unter einem schlichten weissen
Kopftuch hervor blickten. Sie sprach an diesem Tage ueber die Kontinuitaet
der Geschichte, wie sie im Koran dokumentiert ist. Von den verschiedenen
Propheten, die doch alle immer wieder die gleiche Botschaft brachten. Der
Vortrag brachte fuer mich nicht viel Neues. Der Islam kennt die meisten
Propheten des Alten und Neuen Testamentes. Wenn auch die Geschichten nicht
in allen Details uebereinstimmen, so ist doch der Grundtenor stets der
gleiche. Gott schickt seine Propheten, um die Menschen an seine Botschaft
zu erinnern.
Mehr als das Gesagte interessierten
mich die Zuhoererinnen, die mehr oder weniger konzentriert dem Vortrag
folgten. „Und ist es nicht erstaunlich, dass die Botschaft Gottes immer
wieder von neuem in Vergessenheit geriet?“ Fuer einige der Frauen schien
die vorgetragene Information wirklich neu zu sein. Ich staunte. Wussten
die denn so wenig ueber ihre eigene Religion Bescheid? „Im Koran findet
sich ein ganzes Kapitel, das die Geschichten der Propheten in einen Zusammenhang
stellt. Wer weiss, von welchem Kapitel ich spreche?“ Es waren Frauen jeden
Alters, viele Deutsche und einige tuerkische Maedchen, offensichtlich noch
Schuelerinnen, die miteinander tuschelten und staendig rein und raus liefen.
Sehr zum Aerger von Maryam: “Wenn ihr nicht zuhoeren wollt, dann bleibt
doch gleich draussen.“ Alle Frauen trugen Kopftuecher. Die Tuecher waren
schwarz, weiss, bunt bedruckt, mit Spitzen besetzt, schlicht oder auch
kunstvoll gebunden. Manche hatten sich das Tuch tief in die Stirn gezogen,
andere zeigten Haar. „Immer, wenn es ihnen schlecht ging, wendeten sich
die Menschen Gott zu, und spaeter glaubten sie dann, ihn nicht mehr noetig
zu haben.“ Es waren einige Kleinkinder mitgebracht worden. Eines hatte
den Lichtschalter als Spielzeug entdeckt und wollte partout mit nichts
anderem spielen. „Kann nicht mal jemand das Kind vom Lichtschalter wegholen?“
Unter Protestgeschrei des Kleinen brachte die Mutter ihn schliesslich in
die Kueche, wo er sich ueber den Kuchen hermachte und so wenigstens eine
Viertelstunde beschaeftigt war. Als dann aber noch mehrere Anrufe fuer
Teilnehmerinnen kamen und eines der tuerkischen Schulmaedchen wissen wollte,
wieviel Tassen Tee und wieviel Tassen Kaffee sie machen solle, und ob wir
denn noch lange brauchen wuerden, hatte Maryam endgueltig genug. „Naechste
Woche machen wir hier weiter. Es gibt Kaffee und Kuchen.“
So bekam ich endlich die Gelegenheit,
mich mit einigen der Frauen zu unterhalten. Alle duzten sich untereinander.
„Schliesslich sind wir doch alle Schwestern!“ Auch ich wurde sofort in
das persoenliche „Du“ mit einbezogen.
„Trinkst Du Kaffee oder Tee?“ - „Hier,
nimm ein Stueck Kuchen.“ - „Und, wie hat es Dir gefallen?“
Bald entwickelte sich ein lebhaftes
Gespraech. Natuerlich wollten alle wissen, wer ich sei, und wie ich zum
Islam stuende. Maryam erzaehlte, wie lange es gedauert hatte, bis ihre
Ueberzeugung fuer den Islam gewachsen war: „Die Entscheidung fuer den Islam
habe ich aber nie bereut.“ Heide-Khadidscha dagegen hatte noch nicht so
viel ueber den Islam gewusst, als sie ihn annahm. Aber: „Bis heute bin
ich nur positiv ueberrascht worden.“ Was ihr besonders gefallen hatte,
war die „gesunde islamische Lebensweise“. Verzicht auf Rauschmittel, das
Gebet und das Fasten als koerperliche, geistige und seelische Ertuechtigung,
die hygienischen Vorschriften. All das erschien ihr als Sport- und Biologielehrerin
aeusserst sinnvoll.
Maryam bestaetigte, wie gut das regelmaessige
Gebet ihrem Ruecken getan habe. Und dann erzaehlte sie von ihrer Zeit in
der Tuerkei und versuchte, mir die Geschichte der Tuerkei zu erlaeutern.
Ein Thema, von dem ich bis heute nicht allzuviel verstehe. Damals war ich
hoffnungslos ueberfordert.
Ich lernte an diesem Tag noch viele
Frauen kennen. Und alle erzaehlten mir, wie sie persoenlich zum Islam gekommen
waren.
Hamida hatte nach ihrer Scheidung Freundschaft
geschlossen mit einem tuerkischen Ehepaar und war darueber zum Islam gekommen.
Ihre 15jaehrige Tochter Nina dagegen hatte ihre christliche Religion beibehalten,
wenn auch nicht sonderlich aktiv. Sie begleitete ihre Mutter zu den Treffen.
Fatima-Elisabeth, Mitte zwanzig und
Lehramtsstudentin, hatte vor einigen Jahren waehrend ihrer Semesterferien
in einer Fabrik neben einer deutschen Muslima gearbeitet. Sie stammte aus
einer katholischen Familie, beide Elternteile Religionslehrer. Die waren
gelinde gesagt schockiert von der Entscheidung ihrer Tochter fuer den Islam.
In den vergangenen Jahren hatte sich der Schock gelegt und mit beiderseitigem
guten Willen klappte das Zusammenleben ganz gut.
Ihre Freundin Sabine dagegen, eine
Krankenschwester, die ueber ihren Mann zum Islam gekommen war, war wegen
des Kopftuchs von ihrem Vater des Hauses verwiesen worden.
Es waren Muetter da, Hausfrauen, Schuelerinnen,
Studentinnen, eine Sekretaerin, eine Zahntechnikerin. Es gab ledige, verheiratete
und geschiedene Frauen. Ehemaenner, sofern vorhanden, stammten aus der
Tuerkei, dem Libanon, dem Jemen, Marokko und diversen anderen Laendern.
Einige der Frauen hatten einen islamischen Namen angenommen, andere nicht.
Gemeinsam war den Frauen nur eins. Ihre Religion, der Islam.
Und der schien ihr ganzes Leben auszufuellen,
ja ihr Lebensinhalt schlechthin zu sein.
„Islam ist der Rahmen, in dem wir uns
bewegen.“
Zwei Dinge lernte ich an diesem Tag.
Zum einen stellte ich fest, dass der
Rahmen, den der Islam vorgibt, nicht so eng ist, wie ich gedacht hatte.
Es gibt keinen Einheitsmuslim. Ein Muslim ist einfach nur ein Mensch, der
sich fuer Gott entschieden hat. Diese Frauen hatte sich fuer Gott und den
Islam entschieden. Und doch waren sie sie selbst geblieben. Die Uniformitaet
und Langeweile, die das Kopftuch immer auf mich ausgestrahlt hatte, loeste
sich in koelschem und schwaebischem Dialekt auf. Sie entpuppte sich bei
naeherem Hinsehen als ungeheure Vielfalt an Gedanken, Vorstellungen und
Lebenswegen.
Zum anderen wurde mir zum ersten Mal
richtig bewusst, dass man niemals auslernt, auch nicht in Bezug auf eine
Religion. Bisher hatte ich mir immer gesagt, um Muslim zu werden, muesse
man erst alles ueber den Islam wissen, was es zu wissen gibt. Und davon
war ich ja noch weit entfernt. Nun waren mir all diese Frauen begegnet,
die so ueberzeugt zu ihrem Glauben standen, obwohl auch sie nicht „alles“
wussten, was es ueber den Islam zu wissen gibt. Entscheidend ist tatsaechlich
nicht nur das Wissen um eine Religion. Entscheidend ist der Glaube, die
Zuversicht, dass die Botschaft, die der Prophet Muhammad seinerzeit auf
der arabischen Halbinsel verkuendete, wahrhaft und goettlich ist. Entscheidend
ist letztendlich die Entscheidung selbst. Die Entscheidung fuer Gott oder
gegen Gott, fuer den Islam oder gegen ihn.
„Und wahrlich, Wir erschufen den Menschen,
und Wir wissen, was er in seinem Innern hegt; und Wir sind ihm naeher,
als die Halsschlagader.“ (50:16)
Einige Wochen spaeter traf ich meine
persoenliche Entscheidung: fuer Gott und fuer den Islam. Was mich nach
2 1/2 Jahren Beschaeftigung mit dem Islam letztendlich zum Uebertritt brachte,
war die Ueberlegung: „Wenn ich jetzt sterbe und stehe vor Gott, wie kann
ich ihm erklaeren, warum ich den Islam nicht angenommen habe?“
Als ich keine plausible Antwort mehr
wusste auf diese Frage, zog ich die fuer mich einzige logische Konsequenz
aus meiner gewachsenen Ueberzeugung. Ich bekannte:
„Es gibt keinen Gott ausser Gott, und
Muhammad ist sein Prophet.“
Da der Islam keine Form der kirchlichen
Organisation kennt, brauchte ich mich nirgendwo registrieren zu lassen.
Mit dem Glaubensbekenntnis begann ich mein Leben als „Muslima“.