DIE MUSLIME
„Und haltet euch allesamt fest am Seil Gottes und zersplittert euch nicht und gedenket der Gnade Gottes, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, so dass ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet. Damals wart ihr am Rande einer Feuergrube und Er erettete euch daraus. So macht Gott euch Seine Zeichen klar, damit ihr vielleicht rechtgeleitet werden moeget.“ (3:103)
Das arabische Wort „Islam“ hat nicht umsonst den gleichen Wortstamm wie das Wort „Salam“ - Friede. Im Islam liegt wirklich eine grossartige Chance fuer ein friedliches Zusammenleben. Leider ist davon in der Praxis zur Zeit wenig zu sehen.
Wissen Sie, manchmal werde auch ich
es muede, immer und immer wieder zu erklaeren, wie der Islam nun wirklich
ist. Denn immer und immer wieder bekommt man zur Antwort: „Aber mein marokkanischer
Nachbar, der macht das ganz anders.“ Oder: „Die tuerkischen Schueler in
meiner Klasse, die erzaehlen mir da ganz andere Dinge.“ Und wie soll man
das widerlegen? Die Theorie der islamischen Lehre ist klar und nachschlagbar.
Die Praxis der Muslime dagegen ist immer fuer Ueberraschungen gut. „Die
leben hier, wie in ihrem anatolischen Dorf.“
Tatsaechlich spiegeln sich im Verhalten
der Muslime haeufig mehr doerfliches Brauchtum wieder, als islamische Lehre.
Denn ebenso wie sich nicht jeder Christ
mit der Bibel auskennt, so kennt sich auch nicht jeder Muslim mit dem Koran
aus. Und ebenso wie die christliche Lehre von Traditionen ueberlagert wurde,
die mit der Bibel nicht viel zu tun haben, so wurde auch die koranische
Lehre im Laufe der Jahrhunderte mit kulturellen Traditionen ueberlagert,
die heute von vielen Glaeubigen als Teil des Islam verstanden werden, obwohl
sie es im Sinne der Offenbarungsreligion gar nicht sind.
Nehmen Sie zum Beispiel das Weihnachtsfest.
Wer erinnert sich nicht gern an die festlichen Tage, die Plaetzchen und
die Geschenke, die das „Christkind“ brachte. Ein Fest, ohne das man sich
den Dezember kaum vorstellen kann. Weihnachten ist fest im Kirchenjahr
verankert, obwohl es in der Bibel mit keinem Wort erwaehnt wird. Weder
zu Lebzeiten Jesu noch in den fruehen Gemeinden wurde die Geburt Jesu gefeiert.
Was unserer Freude an dem Fest jedoch keinen Abbruch tut. Ja, selbst die
Kirchen stellen Weihnachtsbaeume auf und verteilen Geschenke.
Osterhasen und Ostereier blieben in
der Bibel gleichermassen unerwaehnt. Trotzdem schmuecken wir alle Jahre
wieder Huehnereier mit Farben und Mustern. Eier symbolisierten uebrigens
schon lange vor dem christlichen Ostern die fruchtbare Fruehlingszeit.
Noch heute haben sie ihren Platz im alten persischen Fruehlingsfest. Neben
frischem Gruen und anderen Fruehlingsboten.
So ist das auch, wenn Muslime den „Geburtstag
des Propheten Muhammad“ in der Moschee feiern und den Kindern Suessigkeiten
schenken, oder wenn Braeute ihre Haende am Vorabend der Hochzeit mit Henna-Malereien
schmuecken.
Grundsaetzlich schaden diese Braeuche
ja auch niemandem. Unschoen wird es erst, wenn eine tuerkische Familie
trauert, weil das Neugeborene „nur“ ein Maedchen ist. Blieben nicht auch
dem Propheten „nur“ Toechter, nachdem seine Soehne schon im Kleinkindalter
verstarben? Und hat er diese Toechter nicht ueber alles geliebt?
Aergerlich ist auch, wenn einer naiven
Studentin von Geschaeftemachern groessere Geldbetraege abgeschwatzt werden
fuer Amulette, die vor Boesem schuetzen sollen. Da werden beispielsweise
blaue Steine oder Anhaenger in der Form der „Hand der Fatima“, der juengsten
Prophetentochter, angeboten. Alles Unsinn! Jeder Muslim betet fuenfmal
taeglich zu Gott: „Dich allein bitten wir um Beistand.“ (1:5) Gluecksbringer
sind der islamischen Lehre ebenso fremd wie Horoskope, Wahrsagerei oder
auch „Heiligen“-Verehrung. Nur Gott allein ist der Anbetung wuerdig. Und
selbst der Prophet Muhammed wird im Koran aufgefordert: „Sprich: Ich kann
mir selbst weder Gutes noch Schlechtes zufuegen ausser dem, was Gott will.
Und wenn ich Wissen um das Verborgene haette, haette ich Gutes fuer mich
angehaeuft, und kein Uebel wuerde mich treffen. Ich bin fuerwahr nichts
anderes als ein Warner und ein Verkuender froher Botschaft fuer ein Volk,
das glaeubig ist.“ (7:188)
Die Muslime in Deutschland stammen aus
allen Teilen der Welt. Und von ueberall her haben sie ihre traditionellen
Vorstellungen mitgebracht. Meistens ist ihnen gar nicht bewusst, dass diese
nichts mit dem Islam zu tun haben. Schliesslich wird doch in der Moschee
das gleiche gelehrt.
Die Moschee ist fuer auslaendische
Muslime ein Stueck Heimat. Waehrend man sich in der deutschen, haeufig
als feindlich wahrgenommenen Umgebung nie richtig verstanden gefuehlt hat,
ist die Moschee ein Platz der Ruhe. Hier spricht man die gleiche Sprache.
Hier denkt man auf die gleiche Weise.
So haben die Araber ihre Moscheen,
ebenso wie die Tuerken, die bosnischen Muslime oder die Iraner. Die Traegervereine
dieser Moscheen sind „kulturelle“ Vereine. „Kulturell“ werden sie von den
Vereinsgruendern genannt, weil bei der Bezeichnung „islamisch“ in den deutschen
Aemtern immer noch alle Alarmglocken klingeln. Tatsaechlich trifft der
Begriff „kulturell“ den Charakter der meisten Vereine jedoch ganz gut.
Eine meiner ersten Erfahrungen mit Moscheen
war die, nicht verstanden zu werden. Deutsch wird vor allem von der aelteren
Generation kaum gesprochen.
Meistens reicht es gerade noch fuer
die Frage: “Du Heirat Muslim?“, unterstuetzt durch einen Zeigefinger, der
in Richtung meines Eheringes deutet. Dann folgt auch hier das obligatorische:
“Ach so!“, jedoch wesentlich erfreuter, als ich es von Nicht-Muslimen gewoehnt
bin. In der arabischen Moschee bin ich „aegyptisch“ geworden, in der tuerkischen
Moschee „tuerkisch“. Oder doch vielleicht „arabisch“? Schliesslich ist
mein Mann ja Araber. Oder ... Nun ja, „richtig“ deutsch bin ich auf jeden
Fall nicht mehr. Oder doch...? Die Tatsache, dass ich keinen „islamischen“
Namen trage, verwirrt.
Ich zumindest fuehle mich kein bisschen
aegyptisch. Ich habe auch nicht die geringste Lust, tuerkisch, arabisch
oder sonst etwas zu werden.
Und warum sollte ich meinen Namen aendern?
Es stimmt zwar, dass der Prophet Muhammad seinerzeit einigen neuen Muslimen
andere Namen gegeben hat. Das betraf jedoch hauptsaechlich Namen, die eine
sehr schlechte oder unislamische Bedeutung hatten. Mein Name ist weder
unislamisch, noch hat er eine schlechte Bedeutung. Warum sollte es also
nicht eine Muslima geben, die Anja heisst?
Tatsaechlich werden deutsche Muslime
selten reibungslos in bestehende islamische Gemeinschaften integriert.
Sie sind unbequem, diese Deutschen. Immer pochen sie auf den Koran und
die Sunna. Hundertundfuenfzigprozentige! Und alles wollen sie veraendern.
Sie betreiben in der Moschee Koranexegese auf Deutsch, geben Hausaufgabenhilfe
und ermutigen die Maedchen, sich weiterzubilden, anstatt nur ihren haeuslichen
Pflichten nachzugehen. So macht sich der deutsche Einfluss auch noch im
letzten bisschen Heimat breit. Als ob es nicht schon draussen genug Deutsche
gaebe.
Die Reaktion der deutschen Muslime
ist haeufig Abgrenzung. Sie wollen nichts mit volkstuemlichen oder nationalen
Vereinen zu tun haben. Aber in die deutsche Gesellschaft passen sie auch
nicht mehr so richtig. So schliessen sie sich in eigenen Vereinen zusammen.
Manche besinnen sich auf den alten Orient zurueck. Maenner kleiden
sich mit Pumphosen, langen Hemden und Turban. Und Frauen basteln fuer ihre
Kinder Beduinenzelte mit Zubehoer, damit diese spielerisch lernen, wer
ihre „Vorfahren“ sind. Zwar stammten die ersten Muslime aus Mekka, das
zur Zeit des Propheten Muhammad eine bluehende Handelsstadt war, und kein
Beduinenlager, aber so genau braucht man es nun wieder doch nicht zu nehmen.
Und langsam aber sicher schafft die
deutsche islamische Gemeinde ein deutsches Aequivalent zu den orientalischen
Vereinen, diskutiert ueber Goethe und den Islam, textet deutsche Volkslieder
um und bastelt „Ramadan-Kalender“ nach dem Vorbild der Adventskalender,
bei denen das Kind jeden Tag ein Tuerchen oeffnen darf.
Diese Vereine moegen alle ihre Berechtigung
haben. Der Rahmen des Islam ist weit. Und jeder hat das Recht, seine Sprache
zu sprechen und seine Kultur zu leben. Darueber geht nur leider viel vom
Gedanken der islamischen Gemeinschaft, der „Umma“, verloren.
Im Koran heisst es: „Und haltet euch
allesamt fest am Seil Gottes und zersplittert euch nicht und gedenket der
Gnade Gottes, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure
Herzen in Liebe vereinte, so dass ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet.
Damals wart ihr am Rande einer Feuergrube und Er erettete euch daraus.
So macht Gott euch Seine Zeichen klar, damit ihr vielleicht rechtgeleitet
werden moeget.“ (3:103)
Der Islam ist eine gesellschaftsbildende
Religion. Ziel ist nicht, so exklusiv wie moeglich zu sein. Ganz im Gegenteil.
Es gilt, einen moeglichst grossen Konsens zu finden. Muslime muessen gemeinsam
arbeiten, nicht gegeneinander. Gott warnt uns ausdruecklich im Koran: „Und
seid nicht wie jene, die sich in Gruppen gespalten haben und uneins geworden
sind, nachdem klare Beweise zu ihnen gekommen waren. ...“ (3:105)
Natuerlich ist nicht jeder Muslim gleich.
Nicht jeder kleidet sich gleich, kocht die gleichen Gerichte oder spricht
die gleiche Sprache. Und das sollte auch so sein. Wie koennten wir sonst
voneinander lernen? Steht nicht schon im Koran: „Oh ihr Menschen, wir haben
euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Voelkern und Staemmen gemacht,
auf dass ihr einander kennen lernen moeget. Wahrlich, vor Gott ist von
euch der Angesehendste, welcher der Gottesfuerchtigste ist. Wahrlich, Gott
ist Allwissend, Allkundig.“ (49:13)
Im Islam hat es immer schon Vielfalt
gegeben. Und wir koennen viel voneinander lernen. Ohne neue Impulse, ohne
Diskussionen kommt jede geistige oder gesellschaftliche Entwicklung zum
Stillstand. Das betrifft auch den politischen Diskurs. Aufgabe der islamischen
Gemeinschaft ist es, die verschiedenen Stroemungen zum Wohle aller in eine
Gesellschaft zu integrieren.
Auch der Prophet Muhammad lernte von
seinen Gefaehrten und liess Diskussionen zu. Von der beruehmten Schlacht
bei Badr, wo es zur offenen Konfrontation zwischen einer zahlenmaessig
weit ueberlegenen mekkanischen Streitmacht und den Muslimen gekommen war,
berichtet Muhammad Hussein Haikal in seinem Buch „Das Leben Muhammads (s.a.s.)“
folgendes ueber die Wahl des Lagerplatzes: „Als sie (die Muslime) den ersten
Brunnen von Badr erreichten, stieg Muhammad dort ab.
Al Hubab Ibn Al Mundhir Ibn Al Dschamuh
war ortskundig; als er sah, wo der Prophet abstieg, fragte er: „O Gesandter
Allahs, ist dies ein Ort, an dem dich Allah absteigen laesst, so dass wir
davon weder nach vorne noch nach hinten abweichen duerfen, oder ist es
nur eine Frage der persoenlichen Meinung, des Krieges und der Kriegslist?“
Muhammad antwortete: „Es ist eine Frage der persoenlichen Meinung, des
Krieges und der Kriegslist.“ Da sagte er: „O Gesandter Allahs, dies ist
kein Lagerplatz; geh mit deinen Leuten weiter, bis du zum den Kuraish (den
Mekkanern) am naechsten gelegenen Brunnen kommst. Dort machen wir Halt,
schuetten dann die dahinter liegenden Brunnen zu und bauen dann darum eine
Art Becken, das wir mit Wasser fuellen. Wenn wir dann die Leute bekaempfen,
koennen wir trinken und sie nicht.“
Muhammad erkannte, dass Al Hubabs Rat
richtig war, erhob sich mit seinen Begleitern und folgte der Ansicht seines
Gefaehrten. Durch dieses sein Verhalten machte er seinen Leuten deutlich,
dass er ein ganz gewoehnlicher Mensch wie sie war, und dass sie sich durch
Beratung untereinander eine Meinung bilden sollten und er ohne ihre Ansicht
keine Entscheidung treffen wuerde, ja er sogar des guten Rates eines von
ihnen bedurfte.“ (HAIKAL 1987:221f)
Tatsaechlich waren selbst prominente
Vertreter der fruehen islamischen Gemeinschaft nicht immer einer Meinung.
Der Prophet verglich einmal Abu Bakr Siddiq wegen seiner Milde und Bereitschaft
zur Vergebung mit den Propheten Abraham und Jesus, und Omar Ibn Al-Khattab
wegen seiner Haerte und Konsequenz mit den Propheten Noah und Moses. Trotz
ihres unterschiedlichen Charakters hatten sowohl Abu Bakr Siddiq als auch
Omar Ibn Al-Khattab eine hervorragende Stellung in der islamischen Gemeinschaft
inne und bekleideten nach dem Tode des Propheten Muhammad als erste das
Amt des Kalifen. Das heisst, sie folgten ihm nach in der Fuehrung der Umma,
der Gemeinschaft der Muslime.
Gab es damals unter den Muslimen Meinungsverschiedenheiten,
so wurden diese ausdiskutiert und Pro und Kontra abgewogen. Hatte man dann
einmal eine bestimmte Entscheidung getroffen, so wurde diese Entscheidung
von allen getragen. Niemand zog sich beleidigt zurueck, weil man nicht
auf ihn gehoert hatte.
Heutzutage dagegen pochen Doerfler
auf eine bestimmte Handhaltung beim Gebet oder eine bestimmte Farbe des
Kopftuchs und gruenden einen Verein nach dem anderen. Als ob es nicht wahrhaftig
wichtigere Probleme gaebe.
Das wollten wir an der Uni besser machen.
So gruendeten wir einen eigenen Verein ...
Es fing alles an mit dem mittaeglichen
Pflichtgebet, das, da mittags, oft in die Vorlesungszeit an der Uni fiel.
Rein theoretisch kann man natuerlich ueberall beten. Aber etwas Privatsphaere
waere schon nicht schlecht. So suchte ich mir meistens einen gerade leeren
Hoersaal oder betete ganz hinten in der Bibliothek. Immer in der Hoffnung,
es moege niemand vorbeikommen. Und so machten es die anderen auch. Bis
Ahmed und Yueksel das Problem fuer uns alle loesten. Unser Institut befand
sich in der obersten Etage eines Altbaus. Die Treppe fuehrte noch eine
Etage hoeher bis zum Aufzugsschacht. Die beiden hatten mit Genehmigung
des Institutsleiters den praktisch unbenutzten Treppenabsatz auf halber
Hoehe mit zwei Gebetsteppichen ausgestattet und beteten dort.
Das sprach sich herum, und bald begannen
auch andere muslimische Studenten, dort zu beten. Einzeln oder nach gemeinsamen
Vorlesungen auch im Gemeinschaftsgebet - Schulter an Schulter, Fuss an
Fuss. Und waehrend wir vor dem Gebet darauf warteten, bis auch der letzte
seine obligatorische Waschung vollzogen hatte, lernten wir uns untereinander
immer besser kennen.
Es waren vor allem viele tuerkische
Muslime am Institut. Mit einigen freundete ich mich an. Nurten hatte ihr
Studium mit Heide und mir begonnen. Als wir mit Kopftuch an der Uni erschienen,
war sie hoch erfreut. Sie selbst trug kein Tuch, haette das aber gerne
geaendert: “Ich weiss nicht, wie ich anfangen soll. In meiner Familie ist
das nicht so ueblich. Nichtmals meine Mutter traegt ein Tuch. Wenn ich
mich jetzt bedecke, dann sieht das so aus, als wuerde ich meiner Mutter
sagen, sie lebe den Islam nicht richtig.“
Nurtens Eltern waren vor langer Zeit
nach Deutschland gekommen. Alle drei Kinder wurden in Deutschland geboren.
Religion nahmen die Eltern ernst, aber ein Kopftuch kam ueberhaupt nicht
in Frage. Es sei denn anlaesslich eines Moscheebesuchs.
Nadja und Selda dagegen trugen Kopftuecher.
Sie kamen aus der Mathematik, bzw. aus der Archaeologie, um die Vorlesungen
von Professor Falaturi zu hoeren. Nadja kannten Heide und ich schon vom
islamischen Frauentreffen.
Huelya war an unser Institut gewechselt.
Sie gab sich sehr laessig. Ihr Kopftuch wirkte manchmal fast deplaciert
neben der laessig zwischen den Fingern balancierten Zigarette.
Es gab auch noch einen weiteren deutschen
Muslim. Menem kam aus dem Ruhrpott, trug Springerstiefel und einen Buerstenschnitt.
Und er wohnte im gleichen Studentenwohnheim wie Mohamed und ich.
Ali dagegen war erst als Teenager aus
der Tuerkei nach Deutschland gekommen. Er begann ein Jahr nach mir mit
seinem Studium. In der tuerkischen Gemeinde an seinem Wohnort engagierte
er sich in der Jugendarbeit, das heisst, er spielte mit den Jungs Fussball.
Obwohl wir auf den ersten Blick
recht unterschiedlich waren, hatten wir doch viel gemeinsam. Wir waren
in etwa im gleichen Alter und trafen uns fast taeglich an der Uni. Wir
sprachen die gleiche Sprache und lebten in der gleichen Welt. Es schien,
als haetten wir eine Nische gefunden, in der „inlaendische“ Muslime existieren
koennen. Und das betraf auch die urspruenglich auslaendischen Studenten,
die schon so lange in Deutschland lebten, dass sie sich beim besten Willen
nicht mehr mit ihrer Herkunftskultur identifizieren konnten.
Tatsaechlich befinden sich diese jungen
Auslaender - aehnlich wie die deutschen Muslime - in einer Art Vakuum zwischen
den Kulturen.
Die Elterngeneration hatte sich noch
nach Kraeften bemueht, die Werte der „islamischen“ Heimatkultur in der
Familie zu erhalten. Man zog sich in seine eigene kleine Welt zurueck,
pflegte nur Kontakt mit muslimischen Landsleuten und mied moeglichst jede
Beruehrung mit westlichen „Versuchungen“. Dazu kam, dass schon mangelnde
oder fehlende Sprachkenntnisse die Auseinandersetzung mit der deutschen
Umwelt erschwerten, wenn nicht gar unmoeglich machten.
Das mag fuer diese erste Generation
eine angemessene Strategie gewesen sein. Schliesslich wollte kaum einer
tatsaechlich seinen Lebensabend in Deutschland verbringen. Alle wollten
zurueck in die Heimat.
Das sieht aber in der zweiten und dritten
Generation anders aus. Viele Jugendliche verbringen mehr Zeit in der Schule,
als zu Hause. Sie lesen deutsche Zeitungen, sehen deutsche Fernsehprogramme
und haben deutsche Freunde. Sie sprechen Deutsch besser als ihre „Heimatsprache“
und denken gar nicht daran, in ein Land „zurueckzukehren“, dass sie nur
aus dem Urlaub kennen.
Diese Jugendlichen leben in einer Welt,
die den Eltern in den vielen Jahren ihres Aufenthalts fremd geblieben ist.
Symptomatisch dafuer ist der arabische Vater, der so stolz in der Moschee
erzaehlte, sein Sohn habe im Zeugnis in Religion eine Eins bekommen - bis
ihn jemand darueber aufklaerte, dass es an dieser Schule ueberhaupt keinen
islamischen Religionsunterricht gaebe. Das Kind hatte am katholischen Religionsunterricht
teilgenommen.
Symptomatisch sind aber auch das tuerkische
Maedchen, das ihren Eltern zuliebe jeden Morgen mit Kopftuch aus dem Haus
geht, nur um es an der Bushaltestelle in der Tasche verschwinden zu lassen.
Und der arabische Junge, der mit seinen Freunden gerne mal eine Zigarette
raucht, zu Hause dagegen aus Respekt vor seinen Eltern nie auch nur eine
in die Hand nehmen wuerde.
Eltern und Kindern fehlt jegliche Gespraechsbasis.
Eltern wollen von „draussen“ einfach nichts hoeren. Und „draussen“ erscheint
das Leben der Eltern fremd. So beginnen Kinder, ihre „deutsche“ Welt fein
saeuberlich von der Welt der Eltern abzutrennen. Sie erlernen ein „Zwei-Welten-Schema“.
„Zu Hause“ spricht man anders als „draussen“. Und „zu Hause“ denkt man
auch anders als „draussen“.
Islam ist dabei eindeutig der Welt
zu Hause zugeordnet. Die Kinder koennen meistens nichtmals die einfachsten
Sachverhalte ihrer Religion auf Deutsch beschreiben. Ihnen fehlen die Worte.
Und das ist auch kein Wunder. Alles, was diese Kinder je ueber ihre Religion
gelernt haben, haben sie in der Sprache der Eltern gelernt. Und die Lehrer
in den Moscheen kommen nicht selten direkt aus dem Ausland. Sie haben keine
Ahnung vom Leben in Europa. Ein Bezug zwischen dem Islam und dem Alltag
der Jugendlichen in der deutschen Umwelt koennen sie nicht herstellen.
Dabei war der Islam nie fuer nur eine
Kultur gedacht. Er stammt zwar aus dem Orient, aber das tut das Christentum
auch. Trotzdem beanspruchen seine Vertreter ganz selbstverstaendlich allgemeine
Gueltigkeit.
Zwar wird mittlerweile neben christlichem
Religionsunterricht an deutschen Schulen auch Islamunterricht angeboten,
aber ebenfalls muttersprachlich, das heisst auf tuerkisch. Viele der Lehrer
kommen ebenfalls direkt aus der Tuerkei. Ein oder zwei arabische Kinder
im Islamunterricht, die nichts verstehen, was macht das schon? Schliesslich
muss doch ganz klar rueberkommen, wie der islamische Schulunterricht gedacht
ist. Naemlich als Vorbereitung auf eine problemlose Rueckkehr in die Heimat,
da, wo diese Kinder mit ihrer Religion auch hingehoeren.
Ginge man realistisch an diese Sache
heran, so muesste man einsehen, dass nur ein unbedeutend geringer Prozentsatz
dieser Kinder Deutschland jemals wieder verlassen wird. Wir ziehen uns
hier eine neue europaeische Generation von Muslimen heran. Und es liegt
nicht zuletzt an uns, wie sie sich entwickeln wird.
Ich habe muslimische Jugendliche getroffen,
die gemeinsam deutsche Computerprogramme entwickeln, mit denen Koranverse
und Hadithe zu eingegebenen Themen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Und
aus England kommt das „Islamic Quiz“, auf Diskette, bebildert und geordnet
nach Schwierigkeitsgrad und Themenbereichen wie Glaubenspraxis, Geschichte
und Geographie.
Auf einem ueberregionalen Treffen dichteten
Kinder deutsche Produktwerbung auf den Islam um und praesentierten das
Ergebnis gekonnt auf Video. „Mein Islam, dein Islam, Islam ist fuer uns
alle da!“ Sie gestalteten einen Bunten Abend, bei dem ich wirklich nur
ueber schauspielerisches Talent und Ideenreichtum staunen konnte. Sogar
ein selbstgetexteter politischer Rap wurde vorgetragen.
Fuer diese jungen Menschen ist es kein
Makel, Muslim zu sein. Und es ist auch kein Hemmschuh auf dem Weg in die
Zukunft.
Es gibt jedoch leider wenig entsprechende
deutschsprachige Veranstaltungen fuer muslimische Kinder und Jugendliche.
Die meisten leben isoliert in einer Umwelt, die den Islam fuer ueberfluessig
und rueckstaendig haelt. So beschlossen wir muslimischen Studenten, in
unserer Stadt deutschsprachige muslimische Jugendarbeit aufzubauen. Wir
wollten die Kinder und Jugendlichen in der Moschee zusammenbringen. Ihnen
sollte das Gefuehl erspart bleiben, nirgendwo hinzugehoeren. Der Imam „unserer“
Moschee, derselbe Herr, der Mohamed und mich getraut hatte, unterstuetzte
uns von Anfang an. Auch er hatte Kinder im Schulalter.
Wir boten woechentliche Treffs an,
wo wir mit den Kindern zusammen redeten, spielten, bastelten und selbstverstaendlich
auch beteten. Und wir erteilten Hausaufgabenhilfe. Letzteres fand auch
bei der Moscheeleitung grossen Anklang. Dafuer sind deutsche Studenten
nun wirklich gut zu gebrauchen. Ansonsten stand man der ganzen Sache eher
skeptisch gegenueber. Aber das neben Heide, Elisabeth, Ahmed und mir auch
Mohamed am Projekt beteiligt war, beruhigte die Herren vom Vorstand doch
sehr. Wenigstens ein Araber! Nach dringlicher Einladung durch den Imam
erschienen dann auch Kinder zu den woechentlichen Treffs. Zwar nicht so
viele, wie wir gehofft hatten, dafuer aber kamen sie gerne und regelmaessig.
Bald freundeten wir uns mit „unseren“ Kindern an. Heide kuemmerte sich
um jegliche Art schulischer Probleme. Als Lehrerin war sie dafuer wohl
auch praedestiniert. Bald stand sie in regelmaessigem Kontakt mit diversen
Schulleitern und Klassenlehrern. Naima begann, Kopftuch in der Schule zu
tragen. Karima wollte vom Schwimmunterricht befreit werden. Yasmin, eine
junge Marokkanerin, neu in Deutschland, hatte Schwierigkeiten, sich im
Englischunterricht der achten Klasse zurechtzufinden. Zu Hause in Marokko
hatte sie immer nur franzoesisch gelernt, was sie ausgezeichnet sprach.
Ihr juengerer Bruder hatte schon Schwierigkeiten, sein deutsches Geschichtsbuch
zu lesen oder die Aufgabenstellung im Mathematikbuch zu verstehen. Es ist
unvorstellbar traurig, wie diesen Kindern jede Chance genommen wird, einen
vernuenftigen Schulabschluss zu machen, auf dem sie eine Zukunft aufbauen
koennen.
Fausia dagegen kam in diesem Jahr erst
ins erste Schuljahr. Sie hatte keine Probleme. Ihr vierjaehriger Bruder
sass oft neben ihr und kopierte eifrig ihre ersten Schreibuebungen.
Raschida, 4. Klasse, brachte irgendwann
einmal eine „Bravo“ aus der Schule mit. Ihre Eltern wussten nicht einmal,
dass eine solche Zeitschrift existiert, ganz zu schweigen davon auch noch
im Besitz ihrer kleinen Tochter („Raschida ist noch viel zu klein, um zu
verstehen, was die Periode ist.“). Wir Studenten bemuehten uns, eine Verbindung
fuer die Kinder zu schaffen zwischen Elternhaus und deutschem Schulalltag.
Und auch die Kinder untereinander begannen,
sich auszutauschen und anzufreunden. Irgendwann schafften wir Gesellschaftsspiele
an, und dann sogar eine Tischtennisplatte. Heide richtete eine kleine Leihbuecherei
ein, und ihre christliche Mutter fuehrte in den Ferien einen Naehkurs durch.
Manchmal machten wir Tagesausfluege mit den Kindern, gingen ins Museum
oder in einen Freizeitpark. In diesem Jahr gelang es der Moscheeleitung
auch erstmals, einmal in der Woche abends ein oeffentliches Schwimmbad
fuer die Muslime anzumieten. So konnten jeweils 14taegig muslimische Maenner
bzw. Frauen schwimmen gehen. Es war wiederum Heide als Sportlehrerin, die
es in die Hand nahm, den Frauen und Maedchen das Schwimmen beizubringen.
Und sie erreichte es auch, dass „unsere“ Maedchen zum Teil vom gemischt-geschlechtlichen
Schulschwimmen befreit wurden, und stattdessen bei Heide ihre Pflichtstunden
erfuellen konnten.
Der Zeitaufwand wurde jedoch nicht nur
fuer Heide merklich groesser, sondern fuer jeden von uns. Es blieb kaum
noch Zeit fuer das Studium, ganz zu schweigen von einem Privatleben. Heide,
die waehrend der Zeit ihrer Pruefungen ein wenig kuerzer getreten war,
brachte dann noch einmal neuen Schwung in die Arbeit. Sie schaffte es tatsaechlich,
dass ihr als arbeitsloser Lehrerin eine auf zwei Jahre befristete ABM-Stelle
fuer die Arbeit in der Moschee bewilligt wurde. So hatten wir eine Vollzeitkraft.
Das Angebot wurde auf deutschen Sprachunterricht fuer Hausfrauen ausgedehnt
und die Schueler konnten jetzt wirklich gezielte Einzelnachhilfe in Anspruch
nehmen. Es gelang Heide, unter den Studenten noch zusaetzliche Helfer zu
gewinnen, die stundenweise Nachhilfe gaben. Und sie ueberzeugte die Moscheeleitung
davon, einige dieser Studenten fuer ihre Mitarbeit finanziell zu entschaedigen.
Leider ging darueber ein bisschen des
Gruppengefuehls verloren. Schulische Leistung war aus der Sicht der Eltern
verstaendlicherweise wichtiger als Spieltreffs. „Spielen koennen die Kinder
auch zu Hause. Dafuer brauchen sie nicht in die Moschee zu gehen.“ So schlief
der Spieltreff langsam ein. Und mit dem Auslaufen von Heides ABM wurden
dann auch die Unterrichtsaktivitaeten wieder eingestellt.
An der Uni dagegen hatten inzwischen
die Aktivitaeten muslimischer Studenten zugenommen. Tuerkische Studentinnen
beispielsweise luden reihum zu sich nach Hause ein. Es kamen jeweils bis
zu dreissig Maedchen. Zum „Unterricht“ - eigentlich wollten wir uns fortbilden
- kam es kaum. Aber mein muslimischer Bekaanntenkreis wuchs staendig an.
Es kamen Studentinnen aus anderen Staedten dazu, aber auch junge Frauen
aus anderen Umfeldern. Eine Schwesternschuelerin, eine Buerokauffrau, eine
Kindergaertnerin. Obwohl wir eigentlich nicht viel gemeinsam hatten, verband
uns doch die Tatsache, zur muslimischen Minderheit zu gehoeren. So entwickelten
sich aus diesen sporadischen Treffen viele persoenliche Freundschaften.
„Schwestern“ halfen sich bei Referaten, machten zusammen Radtouren oder
fuhren sogar gemeinsam in den Urlaub.
Und eines Morgens kam Nurten mit Kopftuch
zum Arabischkurs: „Wisst ihr, heute frueh, als ich aus dem Haus gehen wollte,
fiel mir auf einmal das Kopftuch ein. Da habe ich es eben umgebunden.“
Seit diesem Tage habe ich sie in der Oeffentlichkeit nicht mehr ohne Tuch
gesehen. Wie erwartet gab es anfaenglich noch einige Diskussionen in ihrer
Familie und Nachbarschaft. Dilek, Nurtens juengere Schwester, erzaehlte
mir spaeter: „Die Nachbarn haben sofort gedacht, Nurten haette geheiratet.
Die sind gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass sie das von alleine
gemacht haben koennte.“ Die Verwandtschaft dagegen, sowohl in Deutschland
als auch in der Tuerkei, fand, Nurten sei mit 22 Jahren noch viel zu jung
fuer das Kopftuch. Dileks Kommentar: „Die denken alle, sie haetten spaeter
noch genug Zeit dazu. Wenn sie mal vierzig sind. Wer sagt denen denn, dass
sie jemals so alt werden?“ Dilek selbst traegt kein Kopftuch. Ihre Mutter
jedoch folgte nach einiger Zeit Nurtens Beispiel.
An der Uni hatten die tuerkischen Studentinnen
die Idee aufgebracht, eine eigene Gebetsecke fuer Frauen anzulegen, da
der Treppenabsatz oberhalb des Instituts zu klein geworden sei. Tatsaechlich
konnten dort nicht mehr als vier Personen gleichzeitig beten, was in „Stosszeiten“,
wie dem Ende der Vorlesung von Professor Falaturi, lange Wartezeiten im
Flur verursachte. Was wiederum nicht gerade Freude im Institut ausloeste.
Standardsatz: “Muesst ihr alle hier im Flur rumstehen?“
Oberhalb der bestehenden Gebetsecke
befand sich ein zweiter Absatz. Dort gab es eine Dachluke und den Zugang
zum Aufzugsschacht. Ausser dem Aufzugswartungsdienst und den Dachdeckern
kam nie jemand herauf - und wann kommen die schon einmal.
Schnell war das Noetigste besprochen.
Und bald schon rueckten Nurten, Huelya, Selda und Nadja mit weisser Farbe
an. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Eine nette kleine Ecke mit islamischen
Bildern an frisch gestrichenen Waenden. Der Boden wurde mit einem Rest
Teppichboden ausgelegt. Gebetsteppiche wurden sorgfaeltig zusammengefaltet
in einem Karton verwahrt, wo sie bei Bedarf schnell zur Hand waren. Und
sogar ein Laempchen hatten die Studentinnen angebracht. Der Strom dafuer
kam per Verlaengerungsschnur aus der darunterliegenden Etage. Bald lagen
auch islamische Broschueren und Illustrierten aus, damit man sich die Zeit
vertreiben konnte. Denn wir begannen, unsere Freistunden auf diesem „ehemaligen“
Treppenabsatz zu verbringen. Ich habe eines meiner Referate dort geschrieben.
Und im Ramadan, dem islamischen Fastenmonat, trafen sich einige Studentinnen
dort gegen Abend, um mit Boerek und Kartoffelsalat gemeinsam das Fasten
zu brechen.
Meistens kamen wir jedoch tatsaechlich
zum Beten. Ebenso wie die „Brueder“. So manches Mal verrichteten wir ueber
die Treppe hinweg mit den Maennern zusammen das Gemeinschaftsgebet.
Leider war unsere Freude ueber unsere
eigene Ecke von kurzer Dauer. Denn bald teilte uns die Institutsleitung
mit, dass die Nutzung des Treppenabsatzes in dieser Form nicht mehr geduldet
werden koenne. Warum? Es wuerde ueber uns geredet!
Unter anderem sei das Institut schon
in ganz Deutschland als „Moschee mit angeschlossenem Institut“ verrufen,
auf ein Maedchen sei Druck ausgeuebt worden, so dass sie jetzt ein Kopftuch
trage (Nurten!), und die Frauen seien von fundamentalistischen Maennern
in die letzte Ecke abgedraengt worden (unsere „Frauenecke“!).
Ungeachtet all dieser Vorwuerfe sei
es unertraeglich, dass sich Auslaender vor der Institutstuer versammeln,
sich laut in Fremdsprachen unterhalten und lachen. Wer weiss, worueber.
Der Professor vermutete: „Die lachen bestimmt ueber mich!“
Natuerlich protestierten wir. Worauf
uns der Institutsleiter zu bedenken gab, einen Anspruch auf einen Gebetsplatz
am Institut haetten wir ja sowieso nicht. Da koenne ja jeder kommen. Etwa
Buddhisten oder Hindus oder irgendeine Sekte. Er ergaenzte seine Ausfuehrungen
dann jedoch mit Seitenblick auf die Hilfskraefte des Instituts, von denen
wohl die Beschwerden ueber die Gebetsecke in erster Linie kamen: „Aber
wir wollen doch mal realistisch sein. Ausser Ihnen wird wohl niemand mehr
kommen und um einen Gebetsplatz bitten.“
Also verblieben wir so, dass unsere
„Aktivitaeten“ aufzuhoeren und unsere „Einrichtungsgegenstaende“ unverzueglich
zu verschwinden hatten. Der erste Treppenabsatz, auf dem damals Ahmed und
Yueksel zu beten begonnen hatten, durfte jedoch erstmal weiterhin zum Gebet
genutzt werden. Probeweise. Und wirklich nur zum Gebet.
In der Zeit des gemeinsamen Gebets und
der Hausaufgabenhilfe in der Moschee war auch der Gedanke eines eigenen
Universitaetsvereins aufgekommen. Multinational, unabhaengig, basisdemokratisch,
deutschsprachig und vor allem islamisch sollte er sein, dieser neue Verein.
Wir setzten eine huebsche Einladung
auf. „MUSLIME!“ war dick gedruckt. Schliesslich war das das verbindende
Element der gesuchten Mitglieder. Wenn auch Andersglaeubige zugelassen
sein sollten. Ansonsten war die Einladung eher unscheinbar, sachlich gehalten,
nicht zu fromm. Wir schrieben, wann und wo wir uns treffen wollten, um
uns kennenzulernen und dass wir daran daechten, einen Verein zu gruenden.
Diese Einladungen wurden kopiert, und
dann verteilten wir uns an der Uni, um zu plakatieren. In den naechsten
drei Tagen haengten wir unsere Zettel wieder und wieder aus, denn immer
wieder wurden sie abgerissen oder ueberklebt.
Zum ersten Treffen in der arabischen
Moschee kamen immerhin rund sechzig Leute. Auch der Imam war da. Sehr zu
meiner Ueberraschung erfuhr ich, dass er noch als Student eingeschrieben
war. Ich hatte ihn noch nie an der Uni gesehen.
Er erzaehlte uns von einer islamischen
Studentengemeinde, die „zu seiner Zeit“ existiert und sogar das Freitagsgebet
zusammen verrichtet hatte. Dieser Verein war dann aber irgendwann aufgegeben
worden, als die damals aktiven muslimischen Studenten die Uni verliessen.
Er bot uns an, unseren neuen Verein fuer uns zu organisieren oder uns zumindest
mit Rat und Tat beiseite zu stehen. Er habe ja Erfahrung. Und er hatte
auch schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was man tun koenne.
So hatten wir uns das eigentlich nicht
gedacht, dass die aelteren Semester die ganze Vereinsgestaltung in die
Hand nehmen wuerden. Aber wie kann man das einem Imam in „seiner“ Moschee
schonend beibringen? Menem, der deutsche Muslim, der an diesem Tag die
Diskussionsleitung uebernommen hatte, machte es mir vor. Er sagte: „Danke,
Bruder, fuer deinen guten Rat. Wir werden ihn uns zu Herzen nehmen. Moechte
sonst noch jemand etwas sagen?“
Damit war das Thema abgeschlossen.
Wir ernannten dann an diesem Tage noch eine Kommission, die eine Satzung
fuer den neu zu gruendenden Studentenverein ausarbeiten sollte. Menem war
diese Satzung sehr wichtig. Sie sollte die Grundziele des Vereins wie Unabhaengigkeit,
deutsche Sprache und natuerlich die islamische Grundhaltung bestmoeglich
schuetzen. Und auch die Moeglichkeit einer spaeteren Uebernahme durch eine
andere Gruppe sollte ausgeschlossen werden.
Mohamed fand die entsprechenden detaillierten
Klauseln eher ueberfluessig. Eine Satzung, gut, die musste her. Schliesslich
sollte der Verein an der Universitaet eingetragen werden. Aber „Die Deutschen
zerbrechen sich ihre Koepfe staendig ueber Probleme, die wahrscheinlich
nie auftreten werden.“ Er hatte nicht so ganz unrecht. „Was aber,
wenn, mal rein hypothetisch gesehen ...“ ist tatsaechlich der Anfang einer
typisch deutschen Frage. Wie wir Deutschen auch dazu neigen, Dinge, die
schon mindestens dreimal gesagt wurden, unbedingt noch einmal in unseren
eigenen Worten wiederholen zu muessen. Diese Eigenart, die vermutlich von
der Bewertung muendlicher Leistung in den Schulen herruehrt, ist in Diskussionen
ausserordentlich zeitraubend und wenig effektiv.
Die Araber sind da ganz anders. Dort
wird in den Schulen sowieso nichts diskutiert. So hat man gelernt, den
Mund zu halten, solange man nichts wirklich wichtiges zu sagen hat.
Nun, trotz der deutschen Beteiligung
wurde die Satzung irgendwann einmal fertig. Und auch Menem war zufrieden:
„Und wenn wirklich der Verein von Atheisten unterwandert wird, dann trete
ich eben aus und gruende einen neuen Verein.“
Und dann kam endlich der grosse Tag
der Vereinsgruendung heran. Wir stimmten ueber den Vereinsnamen ab (alle
drei Bestandteile des Namens wurden einzeln zur Abstimmung gebracht!) und
waehlten einen ersten fuenfkoepfigen Vorstand. Jeder hatte fuenf beliebige
Namen auf einen Zettel schreiben koennen. Danach wurde ausgezaehlt. Gewaehlt
wurden mit zum Teil ueberwaeltigender Mehrheit die Initiatoren des Vereins:
Mohamed, Ahmed, Menem, Ali und ich.
Dann reichten wir unsere Unterlagen
an der Uni ein. Die Satzung war auf Wunsch diverser Mitglieder noch zweimal
ueberarbeitet worden. Und das Protokoll der Gruendungsversammlung hatten
schliesslich etwa dreissig Gruendungsmitglieder unterschrieben. So wurden
wir zu einem eingetragenen Universitaetsverein.
Tatsaechlich verschwand die muehsam
ausgearbeitete Satzung, wie von Mohamed angekuendigt, gleich nach der Vereinsgruendung
in der Schublade. Und ebenso verschwand auch ein Teil der Gruendungsmitglieder
auf Nimmerwiedersehen. Die Vereinsarbeit jedoch begann.
Der Verein traf sich einmal woechentlich
an der Uni. Und zwar nutzten wir einen Raum des Akademischen Auslandsamtes,
der Veranstaltungen auslaendischer Studenten vorbehalten war. Hier erwies
sich der hohe Auslaenderanteil in unserem Verein als Vorteil. Mohamed und
Ali gingen zum Raumvergabe-Termin und sicherten uns einmal woechentlich
den besagten Raum. Es handelte sich um einen grossen Kellerraum mit schmutzig-weissen
Waenden, spaerlich mit Tischen und Stuehlen moebliert. Meistens wurde er
wohl als Partykeller benutzt. Im Vergleich zum freundlichen Gebetssaal
der Moschee war er unaussprechlich haesslich.
Aber er diente seinem Zweck.
Zu den woechentlichen Treffen kamen
dann doch wieder etwa dreissig Studenten und Studentinnen regelmaessig.
Wir hielten dort Vortraege zu islamischen
Themen, wie „Islam in Indonesien“ (anhand der Magisterarbeit eines Vereinsmitglieds),
„Malcolm X“ (inspiriert durch den gleichnamigen Film) oder „Islamisches
Benehmen“ (ganz praxis-orientiert, und doch gemaess Koran und Sunna). Manchmal
kamen sogar Gastreferenten. Mitglieder von Moscheevereinen stellten „ihren“
Verein vor. Deutsche Studenten praesentierten ihre Abschlussarbeiten, die
sie im Bereich „Auslaenderarbeit“ geschrieben hatten. Und Studenten berichteten
aus ihren Heimatlaendern bzw. von ihren Urlaubsreisen in muslimische Staaten.
Wir tauschten die neuesten Neuigkeiten aus, knabberten Gebaeck und tranken
Saft, den Mitglieder gespendet hatten. Wir erzaehlten uns, wo man welche
islamische Kleidung guenstig kaufen konnte, welcher Verein gerade mal wieder
Schwimmen fuer Muslime anbot oder wo es kostenlose Arabischkurse gab. Zeitweise bot der Verein sogar selber einen Arabischkurs und einen Kurs
fuer Seidenmalerei an.
Wir organisierten islamische Picknicks,
Wohltaetigkeitsbazare und aehnliches, an denen bis zu einhundert Leute
teilnahmen. Vereinsmitglieder bedruckten sogar T-Shirts mit unserem neuen
Logo “Yes, we are Muslims!“ und versteigerten sie meistbietend fuer einen
guten Zweck. Auch Tasnim, meine kleine Tochter, hat als Baby ein solches
T-Shirt besessen.
Studienanfaenger luden wir am Semesteranfang
per Info-Tisch ein.
Und fuer groesseres Publikum veranstalteten
wir in Zusammenarbeit mit einem anderen islamischen Verein eine „Islamwoche“.
Wir beschafften vom Islam-Archiv in Soest eine Ausstellung zur Geschichte
des Islam in Deutschland, die wir im Foyer des Hoersaalgebaeudes aufbauten,
und organisierten eine Woche lang taegliche Abendveranstaltungen. Die Resonanz
war ueberraschend gross.
Unser Infotisch war ebenso gut besucht,
wie die Ausstellung, die Vortraege, die Podiumsdiskussion und die Filmvorfuehrung.
Und im Anschluss an das offizielle Programm kam es zu ausgiebigen Zuschauerdiskussionen.
Allgemein wurde der Gedanke begruesst, ein Forum zu schaffen, wo Muslime
und Nichtmuslime sich begegnen und diskutieren koennen.
Sogar der Univerwaltung war es einen
Brief wert. Man teilte uns schriftlich mit, das naechste Mal doch bitte
den Namen des veranstaltenden Vereins groesser zu schreiben. Es waere teilweise
angenommen worden, es habe sich um eine offizielle Aktion der Universitaet
gehalten.
Von Anfang an hatten wir uns bemueht,
kein weiterer Verein zu sein in der langen Liste derer, die um die Ehre
konkurrieren, den „richtigen“ Islam zu vertreten. Deshalb hatten wir es
auch begruesst, dass unsere Mitglieder aus den unterschiedlichsten muslimischen
Vereinen und Richtungen kamen. Wir waren „islamisch neutral“. Vielleicht
lag fuer den aufgeschlossenen deutschen Buerger die Betonung etwas zu sehr
auf dem „islamisch“. „Wir stellen uns doch nicht mit lauter Kopftuchfrauen
auf die Strasse. Wir hatten Sie fuer aufgeschlossener gehalten.“ sagten
uns die Vertreterinnen diverser Frauen- und Menschenrechtsvereine, als
sie uns von ihrer Frauen-Demo fuer bosnische Frauen ausluden.
Wir waren jedoch neutral genug, um
Ansprechpartner zu werden fuer Kirchenvertreter auf der Suche nach Dialogpartnern
und Gastrednern fuer Vortraege ueber den Islam. Journalisten, die muslimische
Stellungnahmen von „einfachen Leuten“ fuer Radiosendungen brauchten, wendeten
sich ebenso an uns wie Fachschaftsvertreter der Orientalistik, die einen
Moscheebesuch organisieren wollten. Und auch fuer die Fluechtlinge in Bosnien
konnten wir doch noch etwas tun. In Zusammenarbeit mit unter anderem einer
bosnischen humanitaeren Hilfsorganisation sammelten wir Kleidung und Gelder
fuer die Fluechtlingshilfe.
Wir waren auch neutral genug, um muslimische
Studenten aus aller Welt anzusprechen. Tuerken, Araber, Deutsche, ein Indonesier,
eine US-Amerikanerin, eine Schweizerin, ein Iraner, um nur einige zu nennen,
kamen zu unseren Treffen. Deutsche halfen Auslaendern, sich in der deutschen
Buerokratie zurechtzufinden und machten dabei die Erfahrung, dass Auslaender
in Deutschland zu sein nicht immer angenehm ist. Und Studenten aus islamischem
Elternhaus dachten zum ersten Mal darueber nach, wie das wohl ist, wenn
man in einer Familie lebt, die sich - im besten Falle - nicht im geringsten
fuer den Islam interessiert.
Wir begannen langsam, ueber unseren
Vorgarten hinauszusehen.
Natuerlich stellte die Zusammenarbeit
mit so unterschiedlichen Menschen auch eine Herausforderung an die Vereinsmitglieder
selbst dar. Im Verein hatte es von Anfang an einen schwelenden Konflikt
gegeben zwischen den Vertretern eher strengerer Auslegung der islamischen
Vorschriften („Wozu soll ich mich mit Zweifeln belasten und mich unnoetig
in Versuchung fuehren?“) und den Vertretern des eher liberalen Fluegels
(„Das wichtigste ist doch, dass ich den Islam im Herzen habe.“).
Im Koran wird den Muslimen ein Platz
jenseits aller Extreme zugedacht: „Und so machten Wir euch zu einer Gemeinde
in der Mitte ...“ (2:143) In manchen Faellen ist es jedoch gar nicht so
einfach, einen Mittelweg zwischen den berechtigten Interessen verschiedener
Seiten zu finden.
So ging es beispielsweise um die Sitzordnung:
Sollen Maenner und Frauen zusammen sitzen, oder getrennt voneinander? Und
wenn getrennt voneinander, dann in welchem Abstand?
Oder Studenten baten darum, Studentinnen
die Empfehlung zu geben, sich doch demnaechst bitte „anstaendiger“ zu kleiden.
„Ja, ist das denn hier ein islamischer Verein, oder nicht?“
Einerseits wollten wir natuerlich offen
sein fuer jeden. Andererseits waren wir tatsaechlich ein islamischer Verein
und wollten als solcher auch Profil zeigen.
Also einigten wir uns darauf, dass
Maenner und Frauen zwar im gleichen Raum sassen, aber an getrennten Tischen.
Und die Frauen trugen, was sie wollten.
Natuerlich waren nicht alle Mitglieder
zufrieden mit dieser Loesung. Aber ohne Kompromisse geht es eben nicht.
Das mussten diejenigen einsehen, die ihre Freiheit ueber alles lieben und
nie gelernt haben, Ruecksicht auf die Gefuehle anderer Menschen zu nehmen.
Aber auch diejenigen, die die Grenzen des Islam fuer sich selbst und andere
sehr eng ziehen und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die anderen zu einer
„islamischeren“ Lebensweise anzuhalten. „Schwestern“ verbieten „Schwestern“
„unweibliche“ Kurzhaarschnitte und geben Empfehlungen fuer das Alltagsverhalten:
„Aber du darfst doch eine andere Schwester nicht auf offener Strasse mit
Kuesschen auf die Wange begruessen. Was, wenn dich ein Mann dabei sieht?“
Und vor allem Araber raten dringend das Erlernen der arabischen Sprache
an: „Jeder Muslim muss Arabisch lernen. Sonst kann er ja den Koran nicht
lesen. Eigentlich muessten wir auch hier im Verein Arabisch sprechen. Schliesslich
sind wir doch alle Muslime. Und Arabisch ist nun einmal die Sprache der
Muslime.“
Und stets wird zum freiwilligen Gottesdienst
aufgerufen. „Die fuenf taeglichen Gebete sind doch nur das absolute Minimum.
Natuerlich musst du zusaetzlich noch beten!“ Auch das Fasten im Monat Ramadan
ist vielen zu wenig. „Wie, fastest du nicht jeden Montag und Donnerstag,
wie das der Prophet gemacht hat?“
Immer schwingt - gewollt oder ungewollt
- der Vorwurf der mangelhaften Religionsauusuebung mit. Der Druck, den diese
Menschen auf sich selbst und auf andere ausueben, ist enorm. Ob Gott das
gemeint hat, als er die Glaeubigen aufrief: „Und es soll unter euch eine
Gemeinschaft sein, die zum Guten aufruft - und das Rechte gebietet und
Unrecht verwehrt. Sie sind es, die erfolgreich sein werden.“ (3:104) ?
Im Koran steht auch: “... Gott will
es euch leicht, Er will es euch nicht schwer machen...“ (2:185) Der Prophet
Muhammad ermahnte die Muslime entsprechend: “Macht es den Menschen leicht,
erschwert es ihnen nicht!“ (SAHIH
AL-BUHARI:50) „Euch wurde nur das vorgeschrieben, was
ihr zu leisten vermoegt! Bei Gott, ihr werdet des endlosen Betens ueberdruessig
werden, bevor Gott Ueberdruss empfindet! Die regelmaessige und massvolle
Religionsausuebung ist Gott am liebsten!“ (SAHIH
AL-BUHARI:41)
Wir sollten unsere Ansprueche vielleicht
etwas zurueckschrauben. Solange wir im islamischen Rahmen bleiben, gibt
es keinen Grund, uns das Leben zu erschweren. Es ist nicht unsere Aufgabe,
ueber die anderen zu Gericht zu sitzen. Keine zwei Finger sind gleich,
ganz zu schweigen von zwei Menschen. Der Koran ermahnt uns: “Und weise
deine Wange nicht (veraechtlich) den Menschen und wandle nicht hochmuetig
auf Erden. Wahrlich, Gott liebt keinen, der ueberheblich und prahlerisch
ist.“ (31:18)
Der Islam erwies sich jedoch als tragfaehig.
Trotz unserer Unterschiedlichkeit lernten wir, miteinander auszukommen.
Menem erklaerte mir einmal, wie er auch die groessten Nervensaegen noch
ertragen kann: „Du musst dir einfach vorstellen, wie sie sich im Gebet
verbeugen und niederwerfen und was sie noch alles fuer Gott tun.“
Er hatte recht. Denn im Prinzip wollten
wir doch alle das gleiche. So fuehlten wir uns trotz unserer Unterschiedlichkeit
bald als Gemeinschaft. Wir begannen, zu verstehen, was im Koran gemeint
sein muss mit „... und gedenket der Gnade Gottes, die Er euch erwiesen
hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, so dass
ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet...“ (3:103)
Ich denke, dass darin der Schluessel
fuer das Zusammenleben ueberhaupt liegt. „Liebe“ hat in diesem Sinne nichts
mit Freundschaft oder Einvernehmen zu tun, ja nicht einmal mit Sympathien.
Es ist einfach nur die alte neue Weisheit: „Keiner von euch ist glaeubig,
bis er fuer seinen Bruder wuenscht, was er fuer sich selbst wuenscht.“ (AL-NAWAWI:Nr.13)
So begann sich eine wirklich herzliche
Atmosphaere zu entwickeln. Jeder Muslim galt als Bruder und jede Muslima
als Schwester. Und das war auch so gemeint. Einmal am Info-Tisch verwies
ich einen mir unbekannten tuerkischen Studenten mit einer Frage an Menem
weiter: „Menem, dieser Bruder hat eine Frage.“
Jahre spaeter, als derselbe Student
im Vorstand unseres Vereins war, sagte er mir einmal, dass ich die erste
Person war, die ihn jemals Bruder genannt hat. Abgesehen von seinen leiblichen
Geschwistern natuerlich. Das hatte grossen Eindruck auf ihn gemacht.
Sind es wirklich diese „Kleinigkeiten“,
wie die Wortwahl, die die Herzen erreichen? Muessen wir nicht viel bewusster,
viel vorsichtiger mit unserem Mundwerk umgehen? „Gott, schenke uns eine
gedenkende Zunge!“ bittet ein Muslim im Wissen darum, wie leicht Tratsch,
Beleidigungen und ueble Nachrede ueber die Zunge gehen. Und das, was einmal
ausgesprochen wurde, laesst sich nicht wieder zuruecknehmen.
Da habe ich viel von Nurtens aelterem
Bruder Yilmaz gelernt. Nie habe ich ihn etwas Negatives ueber andere sagen
hoeren. Er meinte immer: „Jeder muss das, was er tut, vor Gott verantworten.
Wenn ich ueber anderer Leute Fehler herziehe, werde ich spaeter fuer meine
Worte zur Rechenschaft gezogen. Warum sollte ich das also tun?“
So hat sich Yilmaz eben nicht in anderer
Leute Angelegenheiten eingemischt. Er war immer freundlich und kam mit
jedermann gut aus. Seine Herzlichkeit machte selbst vor dem schmuddeligen
Stadtstreicher nicht halt, der eines Tages an unserem schoenen Ramadanbuffet
an der Uni erschien. Ich hatte Yilmaz zusammen mit zwei weiteren Studentinnen
gebeten, sich darum zu kuemmern, diesen „Penner“ moeglichst schnell wieder
loszuwerden. Er sah uns erstaunt an und fragte: „Warum denn? Es ist doch
genug zu essen da.“ Dann ging er auf den Stadtstreicher zu und lud ihn
freundlich zum Bleiben ein. Ja, er drueckte ihm sogar einen Teller und
eine Gabel in die Hand und war ihm am Buffet behilflich. So beschaemt habe
ich mich selten in meinem Leben gefuehlt.
Stueck fuer Stueck begriff ich, was
es heisst, Muslim zu sein. Im Koran steht: „Es ist nicht Froemmigkeit,
dass ihr Eure Gesichter (beim Gebet) dem Osten oder dem Westen zuwendet.
Froemmigkeit ist vielmehr, an Gott zu glauben, den Juengsten Tag, die Engel,
das Buch und die Propheten, (von) dem Besitz - obwohl man ihn liebt - zu
geben den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem Wanderer, den Bettlern,
und fuer (das Freikaufen von) Sklaven, das Gebet zu verrichten und Zakat
zu geben. Und (fromm sind) diejenigen, die ihr Versprechen halten, wenn
sie es gegeben haben und diejenigen, die in Elend, Not und zu Zeiten von
Unheil geduldig sind. Sie sind es, die wahrhaft und gottesfuerchtig sind.“ (2:177)
Und an anderer Stelle wird der Prophet
Muhammad aufgefordert, zu einigen muslimischen Wuestenarabern zu sagen:
„Ihr glaubt nicht; sagt vielmehr: ’Wir haben den Islam angenommen.’, und
der Glaube ist noch nicht in Eure Herzen eingedrungen.’... “ (49:14)
Ich bin nicht allein deshalb glaeubig,
weil ich bete, faste und ein Kopftuch trage. Ist mir Gott nicht naeher,
als meine Halsschlagader? Sieht er nicht auch, was in den Herzen ist? „Wahrlich,
Gott weiss um die Geheimnisse der Himmel und der Erde. Wahrlich, er weiss,
was in den Herzen verborgen ist.“ (35:38)
Der Prophet Muhammad sagte einmal:
„Keiner von euch ist glaeubig, bis
sein Wollen dem entspricht, womit ich gekommen bin.“ (AL-NAWAWI:Nr.41) „Iman“, der Glaube,
ist eine Steigerung des Islam. Und doch ist Islam „das glaeubige Tun, das
aus Iman hervorgeht.“ (DENFFER 1986:75)
Das eine ist ohne da andere kaum denkbar.
Glaeubig ist man entweder ganz oder
gar nicht. Und doch ist Gott barmherzig, der Allerbarmer.
Einer der Zeitgenossen des Propheten,
Anas Ibn Malik, berichtete: „Ich und der Prophet kamen gerade aus der Moschee,
als ein Mann zu uns trat und sagte: „O Gesandter Gottes, wann ist die Stunde
des Gerichts?“ Der Prophet fragte ihn: „Wie hast du dich auf die Stunde
vorbereitet?“ Ich hatte den Eindruck, dass der Mann bei dieser Frage zusammenzuckte
und erschrak. Dann sagte er: „O Gesandter Gottes, ich habe nicht oft gefastet,
ich habe nur selten gebetet und wenig Almosen gegeben. Aber ich liebe Gott
und seinen Gesandten.“ Der Prophet sagte: „Du wirst bei denen sein, die
du liebst.“ (SAHIH AL-BUHARI:476)