Die Ansicht eines Arztes

 

Arzt IN DIESEM ABSCHNITT befassen wir uns mit einigen der verschiedenen medizinischen und ethischen Problemen, mit denen Ärzte, die Zeugen Jehovas behandeln, konfrontiert werden. Das Material auf dieser Seite wurde von Ärzten zusammengetragen, die ein tiefgehendes Interesse am Wohlergehen ihren ZJ-Patienten haben und die eine ethische Verpflichtung verspüren, ihnen und ihren Ärzten zu genaueren Informationen zu verhelfen. Operation

Pfeil Welche Risiken birgt die Ablehnung einer „notwendigen“ Bluttransfusion?
 
Pfeil Ein Arzt beantwortet Fragen, die häufig von Zeugen Jehovas gestellt werden
 
Pfeil Die Auswirkung der Blutreform auf die medizinische Ethik
 
Pfeil Die Qual, in der Blutfrage eine moralisch richtige Entscheidung treffen zu müssen

 

 

Welche Risiken birgt die Ablehnung einer „notwendigen“ Bluttransfusion?

D. JOHN DOYLE, MD, Ph.D.,
FRCPC UNIVERSITÄT VON TORONTO / THE TORONTO HOSPITAL


djdoyle@inforamp.net (nur englisch)
27. Oktober 1997

Obwohl bei Bluttransfusionen das Verhältnis von Risiko und Nutzen als Ergebnis von HIV und AIDS vielfach neu bewertet wurde, bleiben doch Bluttransfusionen in vielen klinischen Situationen lebensnotwendige Maßnahmen. Patienten, die eine Bluttransfusion ablehnen, obwohl ein Arzt sie vom medizinischen Standpunkt aus als absolut notwendig erachtet hat, gehen das Risiko ein, an einer schweren Anämie zu sterben. Z. B. wurde von Carson et al. (Lancet 1988; 1: 727) das Schicksal von 125 Zeugen Jehovas, die als Patienten eine Bluttransfusion verweigert hatten, nach einer chirurgischen Behandlung untersucht. Das Ergebnis war, dass über 60% der Patienten, deren präoperativer Hämoglobinwert (Hb) unter 6 g/100 ml gefallen war, nach der Operation verstarben. Die folgende Tabelle zeigt die vollständigen Daten:
 

Präoperativer Hämoglobinwert Sterblichkeitsrate
   < 6 g/100 ml    61.5 %
6.1- 8 g/100 ml    33   %
8/1-10 g/100 ml     0   %
  > 10 g/100 ml     7.1 %

Wann ist eine Transfusion „notwendig“? Eine angemessene Antwort mag sein: Immer dann, wenn eine unterlassene Transfusion den Patienten einem „hohen Verletzungsrisiko“ aussetzt und solange die Transfusion selbst nicht mit einem hohen Risiko behaftet ist. Angenommen, das Risiko, aufgrund einer schweren Anämie eine Herzattacke (Myokardinfarkt), einen Schlaganfall oder eine ähnliche Komplikation zu bekommen, beträgt 15%, während das Risiko, einen im Blut enthaltenen pathogenen Keim zu übertragen, 0.5% ist, dann würden viele Ärzte das Nutzen/ Risiko-Verhältnis als akzeptabel ansehen. Im wirklichen Leben sind solche spezifischen Zahlen jedoch leider im allgemeinen nicht verfügbar, und das ist der Grund, weshalb Ärzte sich in der Praxis auf ihr klinisches Urteilsvermögen oder veröffentlichte Richtlinien verlassen müssen. Zum Beispiel schlug Carson (American Journal of Surgery 1995;170(6A supp): 325) vor, dass bei Patienten mit Herz-Lungen-Krankheiten der Hämoglobinwert auf 10 g/ 100 ml und darüber gehalten werden sollte, während er bei sonst gesunden Patienten auf 7 g/ 100 ml oder darüber gehalten werden sollte (siehe auch die untenstehende vollständige Tabelle)

 

Zusammenfassung:
 
Bei gesunden Patienten sollte der Hämoglobinwert normalerweise über 7g/ 100 ml gehalten werden, während bei Patienten mit beträchtlichen Herz-Lungen-Krankheiten ein Schwellenwert von 10 g/ 100 ml eingehalten werden soll. Wird bei einem schwer anämischen Patienten ein Eingriff ohne Blut durchgeführt, so ist die Mortalität hoch (eine Mortalitätsrate von über 60% bei Patienten mit einem präoperativen Hämoglobinwert unter 6g/ 100 ml).

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Ein Arzt beantwortet Fragen, die häufig von Zeugen Jehovas gestellt werden

FRAGE 1

Welche Tests werden bei Blutspenden angewendet, um das Risiko einer Übertragung pathogener Keime, die im Blut enthalten sein könnten, zu minimieren?

ANTWORT

Die folgende Information von der Website des kanadischen Roten Kreuzes gibt eine Antwort:

„Blutspenden werden vielen komplexen Tests unterzogen“ **

„Das kanadische Rote Kreuz testet gespendetes Blut, um zu erkennen, ob es Anzeichen enthält, die mit verschiedenen Krankheiten einhergehen. Dies wird als Teil unserer Bemühungen durchgeführt zu bestimmen, ob das gespendete Blut für eine Bluttransfusion verwendet werden kann. Einige der Routinetests, die gegenwärtig zum Beispiel bei allen Blutspenden durchgeführt werden, sind die folgenden: Hepatitis B und Hepatitis C; Human immunodeficiency viruses HIV-1 und HIV-2 (die Virusstämme, die AIDS verursachen); Human T-Cell lymphotropic viruses HTLV-1 (dieser Virus kann bei Erwachsenen eine seltene Form von Leukämie und chronische Krankheiten im Nervensystem hervorrufen); und Syphilis“ **

[Blutspenden in Deutschland werden ähnlich streng überwacht. Bluttests auf die wichtigsten pathogenen Keime sind gesetzlich vorgeschrieben; Anmerkung des Übersetzers]

FRAGE 2

Tötet Blut nicht mehr Menschen als es rettet? Was ist mit AIDS und all den anderen Krankheiten, die durch Blut übertragen werden?

ANTWORT

Wir alle wissen, dass Bluttransfusionen nicht risikofrei sind. In der Tat sind auch Medikamente zur Behandlung von Krankheiten nicht ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen. Sogar chirurgische Latexhandschuhe können bei manchen Individuen schwere allergische Reaktionen hervorrufen! (Einer meiner Patientinnen starb beinahe aus diesem Grund während einer gynäkologischen Routineoperation - zum Glück erkannten wir das Problem, und sie reagierte auf Adrenalin.)

Die ganze Bewegung hin zu blutlosen Operationstechniken, die ich begeistert unterstütze (siehe auch meine Web-Site zu diesem Thema), zielt darauf ab, mögliche Komplikationen infolge von Bluttransfusionen zu reduzieren. Als Folge der AIDS- und Hepatitis-Hysterie in den 80er Jahren haben Ärzte ihre Einschätzung, wann eine Bluttransfusion angebracht ist, umfassend revidiert. Aufgrund dieser Tatsache und gekoppelt mit der Verfügbarkeit neuer Tests auf pathogene Keime, die durch Blut übertragen werden (siehe Frage Nr. 1), war das Nutzen/ Risiko - Verhältnis noch nie so günstig wie heute. Meiner Meinung nach ist das Verhältnis von geretteten zu verlorenen Menschenleben aufgrund von Bluttransfusionen wahrscheinlich mehrere Tausende zu eins.

FRAGE 3

Gibt es nicht immer gute Alternativen zu Blut?

ANTWORT

In vielen Fällen ja. Ein Patient mit einem hohen Blutwert (Hämoglobinkonzentration) kann manchmal einen grossen Blutverlust ertragen, ohne Schaden zu nehmen, solange das verbleibende Blut mit einer geeigneten Salzlösung oder einer anderen „isotonischen Salzlösung“ verdünnt wird, so dass die Menge des zirkulierenden Blutvolumens ungefähr gleich bleibt. Natürlich kann das verdünnte Blut Sauerstoff nicht so effektiv transportieren, wie es vorher der Fall war. Sobald die Hämoglobinkonzentration aber unter 6 g/ dl (schwere Anämie) fällt, steigt das Risiko einer Organschädigung oder einer tödlichen Komplikation durch Sauerstoffmangel über das Maß hinaus, ab dem die meisten Ärzte normalerweise Blut verabreichen würden.

Z. B. starben in einer Studie über Patienten, die Zeugen Jehovas waren und eine Bluttransfusion benötigten, aber sie ablehnten, über 60% der Patienten, deren Hämoglobinwert unter 6 g/ 100 ml lag (die vollständigen Daten sind auf meiner Web-Site zu finden). Es gibt, nebenbei erwähnt, Bemühungen, echte Blutersatzstoffe herzustellen, die Sauerstoff transportieren können (Salzlösungen transportieren keine nennenswerten Mengen Sauerstoff). Diese Ersatzstoffe werden aus nicht verwendbarem menschlichen Blut hergestellt und sollten, wenn alles günstig verläuft, in 5-10 Jahren zur Verfügung stehen.

FRAGE 4

Die Zeugen, die nach einer verweigerten Bluttransfusion gestorben sind, wären so oder so gestorben. Blut rettet keine Menschenleben, nicht wahr?

ANTWORT

In einigen Fällen schwerer Krankheiten oder Verletzungen (z. B. Krebs im Endstadium, Verbrennungen, zertrümmerter Kopf) kann eine Bluttransfusion auf optimale Werte die Überlebenschance nur geringfügig erhöhen In anderen Fällen dagegen, in denen kein zusätzliches Problem außer einer schweren Anämie besteht, (z. B. Blutungen bei einem frisch operierten Krebsgeschwür, Blutungen durch eine verletzte Arterie) kann eine Bluttransfusion wirklich lebensrettend sein. Der Nutzen eine Bluttransfusion hängt sehr stark von dem klinischen Kontext ab.

FRAGE 5

Benutzen Ärzte Blut, um schlampige Operationstechniken zu vertuschen?

ANTWORT

Chirurgen haben genauso wie Rechtsanwälte, Automechaniker, Lehrer und Golfspieler unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Als Anästhesist habe ich gesehen, wie unterschiedlich Chirurgen in ihrer Geschicklichkeit sind, bei Operationen Blutverluste so gering wie möglich zu halten. Viele Krankenhäuser haben ein Auditsystem, das jeden Chirurgen informiert, falls ihre Patienten ständig überdurchschnittlich viel Blut benötigen.

Leider sind manche Operationstechniken (z. B. radiale Prostataentfernung, kraniofaziale oder Wirbelsäulenoperationen) selbst in den besten Händen immer mit einem großen Blutverlust verbunden. In solchen Fällen kann natürlich manchmal eine Eigenblutspende („autologe Bluttransfusion“) angewendet werden, um das Risiko einer Infektion zu reduzieren.

Trotzdem werden Patienten von Chirurgen, die in bezug auf die Homöostase (das Verhindern von Blutungen bei Operationen) nachlässig arbeiten, zusammenfassend gesagt, im Durchschnitt mehr Bluttransfusionen benötigen als diejenigen, die von peinlich gewissenhaften Chirurgen behandelt werden.

FRAGE 6

Verdienen Ärzte mehr, wenn sie Bluttransfusionen anordnen?

ANTWORT

Nein. Wenigstens nicht hier in Kanada.

FRAGE 7

Ärzte haben Ersatzstoffe, die genauso gut wirken wie Blut, nicht wahr?

ANTWORT

Nein, zumindest nicht in Bezug auf den Transport von Sauerstoff zu den Organen. Diese Situation mag sich in 5-10 Jahren jedoch mit der Entwicklung synthetischen Blutes, das aus nicht verwendbarem menschlichen Blut hergestellt wird, ändern.

FRAGE 8

Ich lese immer, dass Bluttransfusionen eine Menge Komplikationen mit sich bringen, insbesondere, wenn jemand Krebs hat. Zeigt das nicht, dass sie schlechte Behandlungsmethoden sind?

ANTWORT

Eine meiner Webseiten beschreibt die Komplikationen einer Bluttransfusion, aber durch diese Komplikationen werden Bluttransfusionen nicht automatisch „schlechte“ Behandlungsmethoden, so wie auch Anästhetika oder Antibiotika zwar Komplikationen mit sich bringen können, aber deswegen noch keine schlechten Arzneimittel sind.

FRAGE 9

Ärzte werden ohne ihr Wissen von Satan dazu gebraucht, um meinen Glauben zu prüfen. In der Vergangenheit glaubten sie, dass ein Aderlass der Weg wäre, einen Menschen zu heilen. Jetzt wollen sie Blut von einer anderen Person zu diesem Zweck missbrauchen. Warum sollte ich ihnen glauben?

ANTWORT

Ein guter Arzt nimmt sich Zeit zu erklären, warum seiner Meinung nach eine Bluttransfusion unumgänglich ist. Falls Du glaubst, Dein Arzt sei ein Agent Satans, so würde er Dir wahrscheinlich nicht böse sein, wenn Du einen anderen Arzt aufsuchen würdest.

FRAGE 10

Was die Bibel über Blut sagt, ist wichtiger und genauer als das, was Ärzte über Blut glauben, nicht wahr?

ANTWORT

Wichtiger: vielleicht. Genauer: unwahrscheinlich

FRAGE 11

Die von der Gesellschaft erlaubten Blutbestandteile sind nicht wirklich Blut, oder?

ANTWORT

Sie werden durch Fraktionieren von Blut hergestellt und sind deswegen per definitionem Blutprodukte.

FRAGE 12

Wenn man die Blutfrage mit Zeugen bespricht, kommt oft die alte Leier: „eine Bluttransfusion hilft sowieso nicht“. Sie argumentieren, dass rote Blutkörperchen in den ersten 48 Stunden in einem Notfall gar kein Sauerstoff transportieren können, da es sich um Fremdblut handelt.

ANTWORT

Das ist völliger Unsinn. Die roten Blutkörperchen nehmen ihre Funktion als Sauerstoffträger sofort wieder auf.

FRAGE 13

Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Einheit Blut verunreinigt ist?

ANTWORT

In einem Artikel aus dem Toronto Star (28. November 1997 S. A6) war die folgende Information zu lesen (Die Daten beziehen sich auf Kanada):

Mit HIV, dem AIDS-Virus, ist heute eine Einheit Blut von 913.000 verunreinigt.

Für Hepatitis C gilt eine Zahl von schätzungsweise 103.000 : 1

Mit Hepatitis B ist eine Einheit Blut von 60.000 verunreinigt.

Der Artikel zitierte Dr. Grahan Sher des Krankenhauses von Toronto wie folgt: „Dies sind geringfügige Risiken. Aber sie liegen leider nicht bei Null. Blut kann niemals 100% sicher sein, da es ein vom menschlichen Organismus abgeleitetes Produkt ist. Es ist aber um Größenordnungen sicherer als jemals zuvor. Und wir sind dabei, neuere und verfeinerte Labortests zu entwickeln, die diese Risiken noch mehr in den Hintergrund drängen werden.“ **

D. John Doyle MD PhD FRCPC
Krankenhaus von Toronto und Universität von Toronto
Pager: 416.375.0565
Fax:416.423.0452
E-mail: djdoyle@inforamp.net
WWW Home Page: http://doyle.ibme.utoronto.ca

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Die Auswirkung der Blutreform auf die medizinische Ethik

An: Canadian Medical Association Journal
Von: Dr. D. John Doyle, M.D., Ph.D.

„Reformierte“ Zeugen Jehovas, die Blut annehmen.

An den Herausgeber:

Es ist wohlbekannt, dass einer der Glaubensartikel der Zeugen Jehovas beinhaltet, Bluttransfusionen abzulehnen, selbst wenn damit ein Risiko einer Organschädigung oder das Risiko zu sterben verbunden ist. [1] Diese Tatsache hat bedeutend dazu beigetragen, die Entwicklung „blutloser“ Operationstechniken [2,3] voranzutreiben. Es hat weiterhin zu erfolgreichen Musterprozessen gegen Ärzte geführt, die Zeugen Jehovas eine Bluttransfusion aufgezwungen haben, als die Alternative nur der fast sichere Tod gewesen war.[4]

Der Zweck des Briefes besteht darin, die Leser des CMAJ über eine neue „Reformbewegung“ unter den Zeugen zu informieren, die darauf abzielt, Bluttransfusionen zu erlauben. Die Führer der Bewegung argumentieren, dass eine Bluttransfusion in Wirklichkeit eine Organverpflanzung ist, die allgemein von der Kirche erlaubt wird und deswegen das Verbot des Alten Testamentes, „kein Blut zu essen“ nicht verletzt. Die Web-Site der Bewegung unter der Adresse
http://www.ajwrb.org
[deutsch: http://geocities.datacellar.net/athens/ithaca/6236]
enthält eine detaillierte Diskussion biblischer, historischer und theologischer Aspekte und könnte für Zeugen-Patienten und ihre medizinischen Betreuer von Interesse sein.

Kliniker, die mit Zeugen-Patienten zu tun haben, die schwer anämisch sind oder auf eine Operation warten, haben demnach eine neuen ethischen Aspekt zu berücksichtigen. Sollten sie im Interesse einer vollständigen Information Zeugen-Patienten auf die Existenz der Reformbewegung, die befürwortet, Blut zu erlauben, aufmerksam machen oder sollten sie es verschweigen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sich „in religiöse Dinge einzumischen.“?

Referenzen:

[1] Victorino G, Wisner DH. Jehovah's Witnesses: unique problems in a unique trauma population. Journal of the American College of Surgeons. 184(5):458-68, 1997

[2] Rosengart TK, Helm RE, DeBois WJ, Garcia N, Krieger KH, Isom OW. Open heart operations without transfusion using a multimodality blood conservation strategy in 50 Jehovah's Witness patients: implications for a „bloodless“ surgical technique. Journal of the American College of Surgeons. 184(6):618-29, 1997

[3] Mann MC, Votto J, Kambe J, McNamee MJ. Management of the severely anemic patient who refuses transfusion: lessons learned during the care of a Jehovah's Witness. Annals of Internal Medicine.117(12):1042-8, 1992

[4] Brahams D. Jehovah's Witness transfused without consent: a Canadian case. Lancet 2(8676):1407-8, 1989

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Die Qual, in der Blutfrage eine moralisch richtige Entscheidungen treffen zu müssen

D. John Doyle MD PhD
The Toronto Hospital
Dezember 1997

Jeder in Kanada weiß, dass das Kanadische Rote Kreuz unter heftigen Beschuss durch die Medien und Patientenschutzgruppen gekommen ist, da in den 80er Jahren mit HIV verseuchtes Blut in Umlauf gelangt ist.

In den Kritiken wurden jedoch nirgends die Ärzte erwähnt, die im Verlauf der Operationen dzum größten Teil die Entscheidungen in der Frage treffen müssen, ob Blut angewandt werden soll oder nicht, nämlich die Anästhesisten.

Anästhesisten sind die Ärzte, die über dein Wohl wachen, während die Chirurgen sich aufs Schneiden, Kauterisieren und Nähen konzentrieren Wir stellen sicher, dass du schmerzfrei bleibst, und dass lebenswichtige Parameter wie der Blutdruck oder der Sauerstoffdruck im grünen Bereich verbleiben. Während einer Vollnarkose achten wir darauf, dass der Patient narkotisiert bleibt. Bei Blutungen während oder durch die Operation selbst sorgen wir für einen Ersatz des Blutverlustes, zunächst mit Salzlösungen, danach aber je nach Bedarf auch mit Blutprodukten. Wie einer meiner Kollegen manchmal seinen Patienten sagt: „Der Anästhesist ist im Operationssaal dein einziger Freund, alle andern schneiden an dir herum und fügen dir nur Wunden zu.“

Anästhesisten haben unter allen Klinikärzten meiner Meinung nach einen Traumjob. Im allgemeinen ist ihr Umgang mit den Patienten angenehm, sie werden gut bezahlt und die Wirksamkeit ihrer Eingriffe ist hoch. Sie sind bei modernen Operationen in der Tat unentbehrlich. Ein Nachteil für sie ist, dass sie Unmengen von Blut verabreichen müssen (gewöhnlich in Form von Erythrozytenkonzentraten), besonders bei Operationen, die mit schweren Blutverlusten einhergehen. Tatsächlich verbrauchen Anästhesisten mehr als die Hälfte des nationalen Blutvorrates, um Blutverluste bei oder nach Operationen auszugleichen. Und mit jeder Einheit Blut (ca. 250 ml) ist ein geringes, aber nicht vernachlässigbares Risiko verbunden, eine Infektionskrankheit zu übertragen oder eine andere Komplikation zu erzeugen.

Jede Einheit Blut wird auf Hepatitis B und C, HIV, Syphilis und andere Pathogene getestet. Manchmal treten falsch-negative Testergebnisse auf, besonders dann, wenn der Test auf der Erfassung des durch die Infektion gebildeten Antikörpers beruht und nicht auf der des Antigens, also des Viruses, der die Bildung der Antikörper auslöst. Bei einer frischen Infektion kann der Körper noch nicht genügend Zeit für eine Immunantwort mit der Bildung von Antikörpern gehabt haben, und in diesen Fällen ergibt sich manchmal ein falsch-negatives Testergebnis.

In meiner klinischen Tätigkeit als Anästhesist bin ich bei jeder einzelnen Einheit an Blut besorgt, und ich überzeuge mich in jedem einzelnen Fall, dass der Nutzen für den Patienten das kleine aber doch vorhandene Risiko einer Infektion mit einem verhängnisvollen Virus übersteigt.

Tatsächlich hat diese verstärkte Sorge um Infektionen uns Ärzte veranlasst, den jetzigen Studenten andere Grenzwerte für Bluttransfusionen zu lehren. Während meiner Ausbildung galt die Standardregel, mit einer Transfusion zu beginnen, sobald der Hämatokrit unter 0.3 (normal ist ein Wert von 0.45) gefallen war und dies insbesondere bei Patienten mit einer Herzkrankheit oder einem zurückliegenden Schlaganfall. Jetzt sind Anästhesisten und andere Ärzte bei der Anwendung von Blutprodukten viel zurückhaltender geworden, und sie warten, bis es sich deutlich zeigt, dass ohne Transfusion das Leben des Patienten in Gefahr geraten würde.

Im Falle eines Patienten, der ein orthodoxer Zeuge Jehovas ist, ist die Situation paradoxerweise viel einfacher. Für mich bedeutet das tatsächlich, dass ich mir über die Entscheidung nicht den Kopf zerbrechen muss - ich respektiere den Wunsch eines Zeugen Jehovas voll und ganz, aufgrund seiner religiösen Überzeugung keine Blutprodukte zu erhalten, auch wenn eine verweigerte Transfusion für manchen Patienten bedeuten kann, dass er postoperativ an einer Sauerstoffunterversorgung stirbt.

(Dass die Gerichte in der Regel dem Einzelnen die Verfügungsgewalt über sein eigenes Leben zugestehen, spielte für meine Entscheidung in dieser Sache eine wesentliche Rolle. Bei reformierten Zeugen, die Transfusionen annehmen, liegt die Sache wieder anders.)

Schwieriger wird für mich die Entscheidung, Blut anzuwenden oder nicht, wenn ein Patient zwar darum bittet, während der Operation kein Blut anzuwenden, wenn er aber für seinen Wunsch keinen anderen Grund hat als eine übersteigerte Angst vor einer Infektion mit HIV. Bis jetzt konnte ich alle solchen Patienten dazu bringen, mir die Erlaubnis zu geben, in einem absoluten Notfall Blut anwenden zu dürfen. Gewöhnlich frage ich sie dazu, wie ich in dem seltenen Fall eines unerwarteten massiven Blutverlustes vorgehen soll. Ihre typische Antwort ist: „also, würde ich ohne Blut sterben, dann in dem Fall natürlich ...“

Was sollte ich aber in einem Fall tun, in dem ich den Patienten nicht davon überzeugen kann? Ein Möglichkeit ist, seinen Wunsch zu respektieren. Denn diese Situation unterscheidet sich letztendlich nicht von der Situation, in der ein Patient aus religiösen Gründen Blut verweigert. Trotzdem fühle ich mich mit dieser Entscheidung unwohl.

Mein Unbehagen stammt daher, dass solche Patienten die gegenwärtig mit Bluttransfusionen verbundenen Risiken nicht realistisch einschätzen können. Erschreckt durch zurückliegende Berichte über Tragödien bei Bluttransfusionen, blähen viele Menschen heute das äußerst geringfügige Risiko einer HIV- oder anderen Infektion, das natürlich vorhanden ist, zu überdimensionaler Größe auf. In einer solchen Atmosphäre der Furcht treffen sie Entscheidungen bezüglich ihrer eigenen Gesundheitsfürsorge, die von wenig Sachkunde zeugen, an die ich mich aber halten muss.

Es gibt viele Situationen im Krankenhaus, wo der Arzt das Risiko gegen den Nutzen für den Patienten abwägen muss. Der Krebsspezialist muss entscheiden, ob eine vorgeschlagene Strahlendosis ausreichend ist, den Tumor auszumerzen, aber nicht so hoch, dass sie den Patienten schädigt. Der Chirurg steht vor der Entscheidung, ob ein älterer Patient noch von einer komplizierten und riskanten Operation profitieren kann.

Genauso ist es mit Bluttransfusionen. Aus Experimenten mit Zeugen-Patienten wissen wir, dass im Falle einer schweren Anämie (übermäßig verdünntes Blut) eine verweigerte Transfusion das Risiko, während oder nach der Operation zu sterben, immens erhöht und dies insbesondere bei älteren Patienten oder bei Patienten mit einem schwachen oder geschädigten Herzen. Solche Patienten nehmen diese Möglichkeit in Kauf. Bei anderen Patienten muss das gleiche Risiko, in einer lebensbedrohlichen Situation keine Bluttransfusion zu geben, gegen das sehr geringe Risiko, einen pathogenen Keim durch Blut zu übertragen, abgewogen werden. Dies abzuwiegen fällt niemals leicht.

D. John Doyle MD PhD FRCPC
Department of Anaesthesia
The Toronto Hospital
200 Elizabeth Street,
Toronto, Canada, M5G-2C4
E-mail: djdoyle@inforamp.net
Fax: (416) 423-0452


** alle Übersetzungen durch uns

Weitere Ärzte, die zu dieser Rubrik einen Beitrag leisten wollen, sind herzlich eingeladen, sich bei folgender Adresse zu melden:
loyaler_reformer@hotmail.com


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letzte Aktualisierung: 28. 12. 1999
Web-Adresse: http://geocities.datacellar.net/athens/ithaca/6236/doktor.htm

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