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Bericht über die Vorbereitungsreise im Oktober 1997 nach Rumänien
Ursula Honeck
... ich bin dabei, meinen fast überfüllten Schreibtisch, auf dem sich sehr dringende und weniger wichtige Dinge während meiner 10 - tägigen
Abwesenheit aufgestaut haben, zu entrümpeln und werde durch mein Faxgerät unterbrochen. Es ist ein Hilferuf aus Moldavien. Zwei Kliniken wenden sich an uns und bitten um Hilfe. Man hat keine Lebensmittel, keine
Medikamente und Geräte, selbst das Geschirr ist unbrauchbar. Vor zwei Jahren habe man sich schon an die deutsche Botschaft gewandt, ohne je eine Antwort erhalten zu haben. Wenn noch einer helfen kann, dann HFO. ????
Ich sitze hier und versuche meiner Machtlosigkeit Herr zu werden, die ich nun und schon während unserer Informations- und Vorbereitungsreise nach Rumänien jeden Tag zu spüren bekam. Wer und was ist HFO, daß man sich
so sehr auf ihre Hilfe verläßt und sich daran klammert? Im Laufe meines nun folgenden Berichtes wird man diese Reaktion der Hilfesuchenden vielleicht ein wenig verstehen. Wir, das sind Marlies Albrecht, meine
rechte Hand in Todtnau, Gunther Köllner, mein sehr aktiver Bruder und ich, treten voller Tatendrang die Reise, die jeder selbst aus der eigenen Tasche bezahlt , am Samstag den 25. Oktober an. Der Flug von Basel über
Amsterdam nach Bukarest (nicht direkt, aber billiger als andere Flüge) gestaltet sich angenehm und hilft uns die innere Unruhe, bedingt durch die Ungewißheit, was nun auf uns zukommen wird, zu verdrängen. Trotz
vorgerückter Stunde können wir erkennen, daß der Flughafen von Bukarest inzwischen modernisiert wurde und fast westliches Aussehen angenommen hat. Auch die Abfertigung ist nicht vergleichbar mit der vor einem Jahr,
und die Zollbeamten sind zu unserer Überraschung sogar freundlich. Wir werden von Dr. Nicolescu, unserem Kontaktmann in Bukarest, abgeholt und zu unseren Quartieren gebracht. Marlies schläft bei Familie Nicolescu,
mein Bruder und ich bei den Schwiegereltern von Marta, die vor Jahren bei uns in der Praxis gearbeitet hat und nun in Deutschland selbst eine Praxis betreibt. Die Wiedersehensfreude ist auf allen Seiten sehr
herzlich. Am Sonntagmorgen machen wir bei strahlendem, aber kaltem Wetter einen kleinen Rundgang über einen Markt und besuchen verschiedene Lebensmittelgeschäfte. Wir müssen feststellen, daß alle Preise, ob für
Lebensmittel oder sonstige Verbrauchsmaterialien , westliches Niveau haben. Wir sind sehr irritiert, da man uns immer wieder sagt, wieviel (wenig) man hier verdient, oder wie hoch (niedrig) die Renten sind. Auch
sind wir entsetzt über die Müllhalden, die sich in den Straßen, unter jedem Auto und in allen Ecken auftürmen. "Keiner fühlt sich dafür zuständig", so sagt man uns. Seit vier Jahren hat sich sehr vieles
zum negativen entwickelt, muß ich feststellen. Um 11.00 Uhr treffen wir uns bei Frau Fonosch, der Vorsitzenden des katholischen Hilfsvereins des Deutsch-rumänische Forums, welches wir seit vielen Jahren
unterstützen. Mit Stolz zeigt sie uns das mit eigener Händearbeit renovierte Haus. Natürlich sind es meist Rentner, die diese Arbeit erledigen. Das Hauptthema unseres Gespräches ist die immer miserabler werdende
Situation in Rumänien, vor allem für die Minderheiten, Rentner, Kranken und Kinder. Die Preise explodieren förmlich, so sagt uns Frau Fonosch, während die Renten und durchschnittlichen Gehälter stagnieren, oder nur
unwesentlich erhöht werden. Eine Rente beträgt derzeit zwischen 45.000 und 360.000 Lei (umgerechnet 10,- und 80,- DM). 4500 Lei sind 1,- DM. Ein Ei kostet 1000 Lei, 1 kg Zucker 5000 Lei, 1 Liter Öl 10.500 Lei, 1 Kg
Äpfel 4000 Lei, 1 kg Tomaten 10.000 Lei, 1 kg Blumenkohl 4000 Lei, 1 Brot 2000 Lei, 1 Liter Milch zwischen 2800 und 8000 Lei, 1 kg Käse 25.000 Lei, dazu kommen die sehr teueren Medikament, die die alten Menschen
regelmäßig benötigen......man könnte die Liste unendlich fortführen und von vorne nach hinten rechnen, bei diesen Preisen kann kein Rentner überleben. Aber nicht nur die Rentner sondern sogar Akademiker haben zu
kämpfen, ein Assistenzarzt verdient umgerechnet 50,- DM, ein Facharzt, wie Dr. Nicolescu 100,- DM im Monat. Ohne zusätzliche Einnahmequellen wäre auch da ein Überleben fast undenkbar. Es gibt zu viele
Schwarzarbeiter, die keine Steuern bezahlen, man spricht von lediglich 15 %Arbeitnehmern, die ihrer Steuerpflicht nachkommen. Zudem werden alle Frauen mit 50 Jahren berentet, man kann sich denken, was dies für einen
Kostenaufwand für den Staat bedeutet. Daß natürlich, wie überall, der Staatsapparat ein riesiges Vermögen verschlingt, kann man sich vorstellen. – Die Erläuterungen von Frau Fonosch sind deprimierend, sie bittet
abschließend hauptsächlich um Hilfe für die Kliniken, denen es sehr schlecht geht. Das nun folgende überschwengliche Lob, das wirklich ehrlich gemeint ist, was unsere Hilfsgüter und deren Wertstellung anbelangt,
läßt wieder etwas Freude in uns aufkommen. Hilfe für Osteuropa hat ein Gütesiegel bei den Empfängern, man kann sicher sein, daß nichts entsorgt wird, wie bei anderen Organisationen. So bekommt auch Marlies das
berechtigte Lob für ihre Aufgabe, (sie ist für Kleidung, Wäsche etc. verantwortlich), die man immer unterschätzt, welche aber genauso wichtig ist, wie die korrekte Sortierung und Aufteilung der Medikamente. An
diesem vormittag besuchen wir noch die staatliche Ambulanz, die von Dr. Nicolescu neben sechs weiteren Ärzten versorgt wird und für ca. 20.000 Patienten dieses Bezirkes eingerichtet ist. Der Vergleich mit einer
hiesigen Praxis, und sei sie noch so einfach, ist unvorstellbar. Aber es muß gehen, es bleibt nichts anderes. Am nachmittag führen wir noch lange Gespräche mit Herrn Dr. Nicolescu, der uns die fast unglaubliche
Situation in Rumänien begreiflich machen möchte, während im Fernsehprogramm ohne Unterbrechung deutsche Werbung läuft. Eine seiner Äußerungen ist bis heute in meinem Gedächtnis fest sitzen geblieben, weil sich
dahinter soviel Wahrheit verbirgt...."Ich weiß, daß es euch im Westen auch immer schlechter geht, die Preise steigen, die Arbeitlosenzahl nimmt stetig zu, die Sozialleistungen werden gekürzt, aber ihr seid
bemüht, euer relativ hohes Niveau nicht zu verlieren, ihr arbeitet um besser leben zu können, bei uns tut man etwas um zu überleben, an besser leben ist nicht zu denken, wo das Bemühen um das tägliche Brot schon zum
Kampf von einem zum anderen Tag wird". Diese Äußerung, die soviel Wahrheit in sich birgt, bekommen wir jeden Tag auf unserer Reise zu spüren. Vor unserem Abflug nach Tirgu-Mures statten wir Herrn Dr.
Fabritius, dem Vorsitzenden des Deutsch-rumänischen Forums von ganz Rumänien (und inzwischen Staatssekretär) noch einen kurzen Besuch ab. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren als einen sehr korrekten Menschen. Wir
sprechen über unsere Probleme als Hilfsorganisation (Gebühren, Diesel, etc.), und er berichtet uns über seine Schwierigkeiten, die er selbst als Politiker bei seinem Bemühen, Bedürftigen zu helfen, deutlich zu
spüren bekommt. Er ist parteilos und setzt sich vor allem für die Minderheiten ein. Lange könne er diese Arbeit als Staatssekretär nicht mehr machen, es gibt zu viele Schwierigkeiten und Ungereimtheiten. Die Arbeit
als Chef im Hygieneinstitut fülle ihn total aus. Er wird sich um uns bemühen, ob es etwas nützt, wagt er zu bezweifeln bei der derzeitigen Regierung. Selbst er bekommt die Gleichgültigkeit, was das Gesundheits- und
Sozialwesen anbelangt, sehr deutlich zu spüren. Pünktlich nach rumänischer Zeit (mit 40 Minuten Verspätung) erleben wir einen wunderschönen Flug in einer kleinen Tarom-Maschiene über die schneebedeckten Gipfel
der Karpaten in Richtung Tirgu-Mures. Nur einmal kommen uns Zweifel an der Sicherheit des kleinen Flugzeugs, als Marlies plötzlich erschrocken "Ulla" ruft, weil sie das Gefühl hat, als würde das Flugzeug
über eine unbefestigte Straße fahren oder über einen schlechten Bahnübergang rollen. In Tirgu-Mures angekommen ist alles vergessen. Dr. Liebhart, unser Freund und Kontaktmann in Rumänien holt uns vom Flughafen ab.
Im Gegensatz zum Mai macht er einen eher ausgeglichenen Eindruck, er nimmt sich Zeit für uns und für die so wichtigen Gespräche. Auch hier gibt man uns zu verstehen, welch hohen Rang die "Hilfe für
Osteuropa" einnimmt. Alles sei immer in Ordnung, nie sei ein Verfallsdatum überschritten, wir seien die einzige große (????) Organisation, die seit nunmehr sieben Jahren kontinuierliche Hilfe leistet. Man setzt
alle Hoffnungen auf uns, daß wir auch jetzt, wo man sich auf der Talsohle angekommen glaubt, keinen im Stich lassen werden (obwohl man weiß, daß wir hier in Deutschland unser diesbezügliches Anliegen immer seltener
anbringen können, weil Rumänien sowieso nicht in unserer Presse, und wenn, dann nur negativ, erwähnt wird). Mit dem Kleinbus, den wir vor vier Jahren nach Tirgu-Mures für die Arbeit des Deutsch-rumänischen
Forums gebracht haben, setzen wir am nächsten morgen unsere Reise fort. Neben rein dienstlichen Anliegen möchte ich natürlich auch die etwas privateren mit einbeziehen, und so besuchen wir die Familie unseres
Patenkindes Christian (inzwischen 23 Jahre alt) in Medias. Gerade dort bekommen wir sehr deutlich die Armut, den Kampf ums tägliche Überleben zu spüren. Natürlich setzen wir uns an einen gedeckten Tisch, aber
die Mutter hat tiefe Ringe unter den Augen, und die Depression ist ihr ins Gesicht geschrieben. Als Christian, der derzeit mit unserer Unterstützung eine Ausbildung als Krankenpfleger in Bukarest macht, ins Zimmer
tritt, sind wir alle erschüttert. Er ist total abgemagert und emotionslos. Man hat ihm im Sommer alle seine Sachen, die er in Bukarest im Zimmer hatte, gestohlen. Er wagt nicht, seine Mutter über diesen Diebstahl zu
unterrichten, da sie sehr labil ist. Nur das, was er auf der Haut trägt, ist ihm geblieben. Sie wundert sich jedesmal bei seiner Heimkehr, daß er keine Kleidung zum waschen bringt. Um sein Zimmer bezahlen zu können,
arbeitet er täglich von 07.00 Uhr bis 15.00 Uhr in einer Klinik für Suchtkranke, anschließend besucht er von 16.00Uhr bis 19.00 Uhr die Schule und muß dann noch lernen. Er hat nach dieser psychischen Belastung weder
Lust noch die Kraft etwas zu essen, zumal er eine Mahlzeit (meist Suppen) selbst zubereiten muß. Ständig hat er irgendwelche Infektionen....machtlos, überleben... wieder gehen mir solche Worte durch den Kopf. Die
Schwachen werden nicht überleben. Dennoch bin ich der Überzeugung, daß die vielen Starken, die es auf der Welt gibt, zumindest einige Schwache mittragen könnten. (mein Wort in Gottes Ohr!) Am Abend in Bistritz
angekommen, haben wir noch gute Gespräche mit Familie Dr. Suteu. Nicht nur über die miserable Lage, sondern auch über die Geschichte Rumäniens, die sehr interessant ist. Dana, die Tochter von Herrn Dr. Suteu stellt
uns ihr Appartement zum Übernachten zu Verfügung, und am nächsten morgen treffen wir uns mit Herrn Theiß, dem Vorsitzenden des Deutsch-rumänischen Forums in Bistritz. Wieder bekommen wir ein überschwengliches Lob
für unsere Hilfsgüter, und man zeigt uns die überaus korrekt geführten Bücher über deren Verteilung. Auch hier bekommt man die verzweifelte Lage deutlich zu spüren, dennoch ist man auch hier, wie überall, bereit,
uns bei unseren Problemen behilflich zu sein und nach einer Lösung zu suchen. Anschließend berichtet uns Herr Dr. Buta, der Direktor des Krankenhauses von Bistritz, daß in Rumänien viele Kliniken geschlossen
wurden und in nächster Zeit geschlossen werden. Es ist kein Geld mehr da, um Medikamente und Lebensmittel zu kaufen, die Patienten müssen das Essen selbst mitbringen und die Medikamente aus eigener Tasche bezahlen.
Meist aber haben die Kranken nicht die nötigen Mittel und gehen nur ins Krankenhaus, wenn es sehr ernst ist. Man bittet uns dringend um Lebensmittel, Babynahrung, Bettwäsche und Nachtwäsche für die Patienten,
natürlich auch um Medikamente und Verbandsmaterial. Man bedankt sich herzlich für die kontinuierliche, wertvolle Hilfe über viele Jahre und setzt alle Hoffnungen auf uns. Abschließend besichtigen wir noch ein
eventuell für unsere Hilfsgüter in Frage kommendes Lager und nehmen Abschied bis zum nächsten Frühjahr. Voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit unseren lieben Freunden in Piatra-Neamts, genießen wir die
wunderschöne Fahrt über die Karpaten. Doch langsam wird es empfindlich kalt in dem kleinen Bus, die Heizung funktioniert nicht und überall zieht es herein, es kommt der Zeitpunkt, wo wir unsere Füße kaum noch spüren
vor lauter Kälte, und das noch weit vor unserem Ziel. Auch ist es in der Dunkelheit sehr schwer zu fahren, da uns kaum ein Auto begegnet (das Benzin ist für die meisten nicht mehr bezahlbar), und sehr viele
unbeleuchtete Ochsen- oder Pferdegespanne, oder Männer, die nach dem Aufwärmen mit Zuika etwas Gangschwierigkeiten haben, plötzlich auf der Straße auftauchen. Gusti, unsere Dolmetscherin erwartet uns in der
Stadt, wo wir pünktlich um 20.00 Uhr ankommen. Nach der Begrüßung berichtet sie uns sogleich, daß man ihr am Nachmittag während des Einkaufens den Auspuff ihres Autos stehlen wollte, sie hat aber den Dieb erwischt
und in die Flucht geschlagen. Seither ruht der Auspuff im gut verschlossenen Kofferraum. Gott sei Dank haben wir ein etwas älteres Fahrzeug mit einer rumänischen Nummer dabei (aber Gustis Auto ist auch schon 20
Jahre alt, fällt mir gerade ein). Total durchgefroren, wie wir sind, kann nur noch ein (??) Gläschen Zuika helfen, da an ein heißes Bad, oder gar an eine warme Dusche nicht zu denken ist. Genau um 22.00 Uhr wird das
Warmwasser von Mittwoch bis zum Samstag abgestellt. Ab Sonntag ist es dann wieder kalt bis zum Mittwoch, zumindest in dem Viertel, wo Familie Munteanu wohnt, bei denen Marlies und ich untergebracht sind. Wenn es
draußen nicht so lausig kalt wäre, gäbe es fast keine Probleme. Nach drei Tagen packen wir Haarwaschzeug und Fön ein, um uns bei Rosa die Haare zu waschen. Genau an diesem Tag ist ihr Viertel mit der
Kaltwasserperiode dran. Pech ! Es gibt Schlimmeres, das sehen wir wirklich jeden Tag aufs Neue. Ja, unsere Tage in Piatra-Neamts sind genau durchgeplant. Nach einem Besuch in der katholischen Pfarrei am
Donnerstagmorgen, treffen wir uns mit den Direktoren der Firma Fibrex, Savinesti. In der betriebseigenen Apotheke und Ambulanz, wo inzwischen wieder drei Ärzte arbeiten, war man sehr dankbar um die Medikament und
über das Verbandsmaterial. Was nicht benötigt wurde, hat man an das Krankenhaus von Piatra-Neamts weitergegeben (Dankbrief habe ich bereits erhalten). Die Herren machen alle einen sehr bedrückten Eindruck. Man weiß
nicht, wie es mit der Firma weitergeht, es fehlt einfach an Investoren und Partnern aus dem Westen. Jeder ist irgendwie deprimiert und ohne Zukunftsperspektiven. "Bitte laßt uns nicht alleine, wir würden auch
nach Deutschland kommen, wenn es euch nicht mehr möglich wäre Hilfsgüter nach Rumänien zu bringen, HFO ist uns sehr wichtig", so die Worte von Herrn Butezatu. Ich denke es ist nicht allein die Sorge um die
Hilfsgüter, sondern auch einfach die Angst, Menschen zu verlieren, die seit vielen Jahren Treue und Verbundenheit gezeigt haben. "Glaubt ihr auch, daß alle Rumänen schlecht sind"?, werden wir
gefragt." So ist doch die Meinung im Westen". Ich muß zugeben, daß, Dank der Medien, die meist nur das Schlechte berichten, weil der Leser es so will, die Einstellung zu den Rumänen nicht sehr positiv ist.
(bei den Polen war es ja auch nicht anders.) Bestimmt würden wir all die Strapazen und Aufopferungen nicht auf uns nehmen, wenn wir so denken würden, gebe ich zur Antwort. Auch hier verspricht man uns, soweit es
möglich ist, bei unseren Problemen zu helfen und versichert, daß dies auch gilt, wenn wir nichts mehr bringen. Nun besuchen wir noch eine Familie, für die einer meiner Brüder durch Gusti eine Patenschaft
übernommen hat. Die Mutter ist 39 Jahre alt, hat eine Krebsoperation hinter sich und muß alle paar Wochen nach Bukarest in die Klinik zur Chemotherapie. Neben der Fahrt muß sie für das Essen und zumindest für einen
Teil der Medikamente selbst aufkommen. Der Vater ist Arbeiter bei Fibrex und verdient ca. 150,-DM im Monat. Die vier Buben sind 9 Jahre (Zwillinge), 14 und 18 Jahre. Die beiden 9-jährigen haben gemeinsam nur ein
Heft und ein Bleistift für die Schule, der 18-jährige macht eine Lehre als Automechaniker und bekommt keinen Pfennig Lehrgeld !!!(von wegen Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld oder Krankenversicherung). Nur mit Beziehungen
wird er nach Abschluß der Lehre eine Arbeitsstelle finden. Der Lohn des Vaters reicht fast nur für den Kauf von Lebensmitteln. Kleidung wird selbst gestrickt oder genäht, wenn es die Gesundheit der Mutter zuläßt,
oder im Second-Hand-Shop gekauft. Der Fernseher wird nicht mehr repariert um die Stromrechnung nicht zu erhöhen. Ist man mit den monatlichen Zahlungen für das Wohnen in Verzug, läuft man Gefahr auf die Straße
gesetzt zu werden. Diese Familie steht als Beispiel für Unzählige, diese hat aber das Glück jemanden gefunden zu haben, der sie unterstützt. Bei der Übergabe eines Umschlags mit Inhalt kann keiner mehr die Tränen
der Rührung unterdrücken. Auch ohne Sprachkenntnisse versteht man die tiefe Dankbarkeit. Zum Abschied überreichen wir dem Vater noch etwas Gebäck und eine Flasche Wein, und er gesteht uns strahlend, daß zufällig
heute der 19. Hochzeitstag ist. Endlich sind wir bei Rosa, die es kaum erwarten kann uns zu sehen. Wir haben uns viel zu erzählen und genießen es, einmal Zeit für einander zu haben. Rosa habe ich bei meinem
ersten Transport 1990 im Kinderheim kennengelernt, sie stand uns damals als Dolmetscherin zur Verfügung. Sie war, bevor sie ins Rentenalter kam, Kinderschwester, aber eigentlich hätte sie Schriftstellerin oder
Dichterin werden sollen, sie schreibt so wunderbare Briefe. Am nächsten morgen ist ein Besuch im Kinderheim, wo meine Tochter Andrea letztes Jahr gearbeitet hat, angesagt. Beim Anblick der vielen erst wenige
Tage alten Babys, die zu zweit in einem Bettchen liegen, bleibt mir fast der Atem stehen. Welche Chance haben sie, was wird ihnen die Zukunft bringen? Man kann nur hoffen, daß sie bald adoptiert werden und in einer
liebevollen Familie aufwachsen können. Derzeit sind 180 Kinder im Heim, die alle auf ein Zuhause warten. Josif 2 Jahre alt, die große Liebe meiner Tochter Andrea, macht einen etwas verstörten Eindruck, als er uns
sieht. Er läßt sich nur von einer Kinderschwester fotografieren (man hat ihn extra sehr chic angezogen). Pünktlich im Zeitplan fahren wir nun in Richtung Bacau, eine Stadt mit 230.000 Einwohnern. In der Nähe
besuchen wir ein Versuchsgut für Getreide- und Maisanbau. Die Leiterin dieser staatlichen Einrichtung verteilt schon seit einigen Jahren von uns mitgebrachte Kleidung, Schuhe, Pflege- und Lebensmittel in den
nahegelegenen Dörfern, wo ihre Arbeiter wohnen. Diese sind alle sehr arm und kinderreich und daher unendlich dankbar für die Spenden. Als Gegenleistung lädt man uns heute zum Mittagessen ein, wir sind angenehm
überrascht, wie gemütlich und geschmackvoll die Wohnung in Bacau eingerichtet ist. Sogleich macht man uns darauf aufmerksam, daß wir zum Händewaschen oder nach dem Toilettenbesuch Wasser aus der Badewanne schöpfen
müssen, da es in dieser Großstadt täglich nur von 5 Uhr morgens bis 8 Uhr morgens und von 5 Uhr abends bis 8 Uhr abends Wasser gibt. Trinkbar sei es sowieso nicht, so sagt man uns. Zum Kochen nimmt man Mineralwasser
(wer es sich leisten kann). Am Samstagmorgen starten wir in Richtung Tulghes zu der psychiatrischen Klinik. Im Mai war Frau Dr. Moresanu sehr enttäuscht, daß weder Hartmut noch ich der Klinik einen Besuch
abstatten konnten. Das wollte ich jetzt wieder ausbügeln und um Verständnis bitten. Derzeit sind in Tulghes 400 Patienten, davon 96 Kinder als Dauerpatienten. Es sei alles sehr schwer, fortwährend werde man vom
Staat überprüft, weil viele Kliniken geschlossen werden sollen. Ca. 5.000,-DM stehe ihr pro Monat zum Kauf für Medikamente für alle Patienten zur Verfügung, das reiche aber nicht, um die teuren Neuroleptika zu
kaufen, sie sei unendlich dankbar um die Medikamente von uns, da sie diese dann nicht zusätzlich kaufen müsse, so berichtet die Chefärztin. Auch in ihrem Gesicht spiegelt sich eine tiefe Resignation und Angst vor
der Zukunft wieder. Zum Leben bleiben auch ihr im Monat nur ungefähr 100,-DM, wie sie uns beim Essen vorrechnet. Plötzlich kommt mir eine Frage in den Sinn, die ich schon lange habe stellen wollen. "Wie geht es
eigentlich Frank?" (Frank war ein 33-jähriger Ingenieur bei Fibrex, der die deutsche Sprache sehr gut beherrschte. Er war ein sehr sensibler, liebenswerter Mensch, mit dem man sehr gute Gespräche führen konnte.
Leider ist er mit dem Leben, mit seiner Ehe und schlußendlich mit dem Konsum von Alkohol und den daraus resultierenden hohen Schulden nicht mehr zurecht gekommen. Letztes Jahr hat er sich mir diesbezüglich
anvertraut. Frau Dr. Moresanu hat ihm angeboten eine Therapie zu machen). "Ich habe befürchtet, daß du diese Frage stellen würdest", sagt Gusti, "Frank hat sich am 15. September das Leben
genommen." Ich bin sehr erschüttert und traurig. Ein junger Mensch mit so vielen Fähigkeiten, aber leider zu schwach für diese Gesellschaft. ...die Starken werden überleben....jetzt muß ich wieder an Christian
denken. Vielleicht ist es so besser für Frank. Um die getrübte Stimmung wieder etwas aufzuhellen, erzähle ich Frau Dr. Moresanu von dem in Aussicht gestellten Microbus von Margret und Hartmut Schulz (bei ihrer
Silberhochzeit im September haben sie auf Geschenke verzichtet und baten für diesen Zweck um Geldspenden), was sofort seine Wirkung zeigt, Frau Dr. Moresanu weint fast vor Freude und kann es nicht fassen. Auch
hier hat HFO einen nicht zu beschreibenden Stellenwert, was man uns beim Abschied immer wieder zu verstehen gibt. Gusti hat in der Nacht offensichtlich gezaubert (tags ist sie ja ständig mit uns unterwegs) und
zeigt uns am Abend das Ergebnis ihrer Kochkünste. Nebenbei wird noch ein Protestbrief für das Finanzministerium, Transportministerium und Gesundheitsministerium erstellt, wegen der vielen Gebühren, die wir im Mai
bezahlen mußten. Ob es was nützt? Ich wage es zu bezweifeln. Nach diesem wunderschönen abend bei Gusti geht es Marlies und mir nicht sehr gut, uns hat die Grippe erwischt (Marlies pulmonal - Lunge/Nase - und
mich abdominal - Magen/Darm - hoffentlich ist es nur eine Grippe und nicht mehr !). Frau Munteanu versorgt mich am nächsten morgen mit Tee und Marlies mit Zuika, und so treten wir gestärkt die Rückfahrt nach
Tirgu-Mures an. Die Verabschiedung von all unseren Freunden fällt sehr schwer, Rosa hat wie immer die Befürchtung, im nächsten Jahr nicht mehr zu leben, und Gusti denkt schon mit Sehnsucht an den Januar, wenn wir
uns in Chisinau wiedersehen. Noch einmal treffen wir uns mit Dr. Liebhart, der an diesem abend irgendwie das Bedürfnis hat sein Herz auszuschütten."Ulla, du weißt, daß ich in all den Jahren immer
optimistisch war und an eine positive Wende geglaubt habe, aber jetzt sage ich dir, es ist nicht mehr auszuhalten. Ich habe mich durchgesetzt und bin als Parteiloser Chef der Klinik geblieben, obwohl man alle
Anstrengungen gemacht hat mir meinen Posten wegzunehmen. Auch wenn ich in den Westen fahre, werde ich behandelt wie ein Zigeuner, nur weil ich eine rumänische Autonummer habe. Unser Volk hat keine Wertstellung mehr
bei euch, und alleine werden wir es nicht schaffen." Selbst Dr. Liebhart bleiben als Dozent der medizinischen Fakultät, anerkannter Herzchirurg und Direktor der Klinik nur umgerechnet 100,00 DM im Monat übrig.
Eine Putzfrau verdient das Doppelte. Um das zu verstehen, muß man wissen, daß die Bezahlung der Ärzte noch zu Ceaucescus Zeiten festgelegt wurde. Damals schon war es das Bestreben des Regimes, die Intellektuellen im
Staat, und damit die potentiellen Gegner, möglichst zu unterdrücken, außerdem hatte man wenig für das Gesundheitswesen übrig. Dennoch ging es früher den Ärzten besser, weil kein Patient mit leeren Händen zum Arzt
ging. Jetzt aber gehen sehr viel weniger zum Arzt, und die Hände sind auch meistens leer. Am Montagmorgen können wir unsere Freude auf Zuhause nicht mehr zurückhalten, doch der Blick aus dem Fenster läßt uns
daran zweifeln, ob überhaupt ein Flugzeug fliegen wird, es ist total neblig. Der Flug wird abgesagt, wir stehen vor geschlossenen Schranken. Daß wir den Anschlußflug in Bukarest nicht mehr bekommen würden, ist
inzwischen allen klar. Dank Handy kann Gunther, mein Bruder, den Zuhausegebliebenen mitteilen, daß wir heute nicht mehr ankommen werden. Dr. Liebhart ist leider auch nicht mehr bei uns, da er zu einem sehr wichtigen
Begräbnis muß. Wir versuchen mit rumänischen Wortbrocken wie – Geld wechseln, Bahnhof, Zug nach Bukarest -- dem Fahrer des Microbusses klar zu machen, was wir nun vorhaben. 10 Stunden dauert die Fahrt mit dem Zug
von Tirgu-Mures nach Bukarest, also Ankunft um Mitternacht. Wir fahren nach Sighisoara und nehmen von dort aus einen von Budapest kommenden Zug nach Bukarest, der nur knappe 5 Stunden unterwegs ist. Irgendwie
gelingt es uns, mit dem Handy über Frau Fonosch Dr. Nicolescu zu benachrichtigen, daß wir um 19.30 Uhr ankommen werden und leider noch eine Nacht bleiben müssen. Die ganze Geschichte ist uns sehr peinlich, Frau Dinu
und Frau Nicolescu beziehen noch einmal die Betten für uns, aber die Nacht auf dem Bahnhof zu verbringen, wäre tödlich. Da abends um halb acht !! keine Auskunft mehr über einen Flug nach Deutschland zu bekommen ist,
und die verfallene Flugkarte sowieso am besten vergessen wird, nehmen wir den ersten Flug am nächsten morgen nach Frankfurt. Irgendwie glücklich auf dem Heimweg zu sein, und doch im Grunde meines Herzens sehr
traurig, all diese Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind, in ihrer sehr schweren Lage alleine lassen zu müssen, geht unsere Reise ihrem Ende entgegen. Marlies und mein Bruder haben die gleichen Empfindungen wie
ich. Ich denke mit etwas Angst daran, wie ich Zuhause meine Erlebnisse, meine Gefühle, meine Machtlosigkeit, in Anbetracht der verzweifelten Situation, am besten "rüberbringen" kann. Ich hoffe, daß mir
dies mit diesem Bericht doch einigermaßen gelingen wird, und daß trotz, oder gerade wegen der Hoffnungslosigkeit, die Spendenbereitschaft nicht abnehmen wird.
...."Einer, der sein Kleid abgibt einem armen Kind, der ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Einer, der die Tür aufschließt dem, der draußen friert, der ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Einer, der das Brot austeilt dem, der Hunger hat, der ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Er kann der Anfang einer Quelle sein, er kann der Anfang neuen Lebens sein."
Ursula Honeck Im November 1997
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