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Bioethik der Verweigerung von Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas:
Teil 1. Sollten bei bioethischen Überlegungen die Ansichten von Kritikern
berücksichtigt werden?
Osamu Muramoto
Kaiser Permanente, Portland, Oregon, USA
Journal of Medical Ethics -
August 1998 Volume 24 Number 4
Zusammenfassung
Die Verweigerung von Bluttransfusionen unter
Zeugen Jehovas (ZJ) wird in der medizinischen Gemeinschaft aufgrund der
zunehmenden Popularität "blutloser" Behandlungen in
jüngerer Zeit zunehmend unterstützt. Viele Ärzte,
insbesondere sogenannte "kooperierende"
Mediziner, bauen eine enge berufliche Beziehung zu dieser religiösen
Organisation auf. Andererseits ist nur wenig bekannt,
dass diese Blutdoktrin von reformwilligen gegenwärtigen und
ehemaligen Zeugen Jehovas, die aus Gewissensgründen von der Ansicht
der Organisation abweichen, heftig kritisiert wird. Ihre Argumente enthüllen
religiöse Praktiken, die im Widerspruch zu den sittlichen Maßstäben
vieler Ärzte stehen. Sie deuten auch darauf hin, dass ein gewisser
Prozentsatz "regulärer" oder orthodoxer ZJ eine unterschiedliche
Einstellung zur Blutdoktrin einnehmen. Der Autor
bespricht diese Gesichtspunkte und vertritt den Standpunkt, dass
die Blutdoktrin erhebliche ethische Mängel aufweist und
dass die medizinische Gemeinschaft ihre unterstützende Einstellung
nochmals überdenken sollte. Die übliche Annahme von
Ärzten, dass ZJ bei der Verweigerung von Blut autonom und einheitlich
entscheiden, wird ernsthaft in Frage gestellt.
(Journal of Medical
Ethics 1998;24:223-230)
1. Einleitung
Dass Zeugen Jehovas (im folgenden ZJ genannt) medizinische oder chirurgische Behandlungen, die eine Verwendung von Blutprodukten einschließen, verweigern, ist in der medizinischen Gemeinschaft Allgemeinwissen. Sie werden darin durch Ärzte unterstützt, die die Herausforderung einer "blutlosen" Behandlung 1 annehmen, wenigstens im Falle von Erwachsenen. Zum Beispiel empfiehlt der Artikel Verfahrensweisen bei der Übertragung roter Blutkörperchen bei Operationen in der Zeitschrift The American Journal of Surgery 2 als Grundsatz Nr. 1, die Einschränkung anzuerkennen, dass allogenes Blut nicht verwendet werden kann. Diese Leitlinie empfiehlt die Einschaltung des örtlichen Krankenhaus-Verbindungskomitees, das von der Kirchenorganisation (Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, im folgenden WTG) ernannt worden ist, um Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung zu leisten. Die überwiegende Anzahl der Artikel in der medizinischen Literatur beschreibt die Verweigerungshaltung der ZJ gegenüber Blutprodukten als entschieden, absolut und folgerichtig. Viele Gerichte trafen Entscheidungen, dass der Weisung eines ZJ, kein Blut anzunehmen, Folge zu leisten ist, selbst wenn es den Patienten sein Leben kosten mag. Auf der anderen Seite berücksichtigen medizinische und juristische Entscheidungen nur selten die Hintergründe, wie sich die Blutdoktrin entwickelt hat oder wie sie in der Gemeinschaft der ZJ durchgesetzt wird.
Bestimmte wenig bekannte Praktiken unter ZJ sind moralisch bedenklich, und deswegen mag es erforderlich sein, dass die medizinische Gemeinschaft ihre Unterstützung der Doktrin überdenken muss. Die Religion der ZJ kam in letzter Zeit von Seiten kritischer Reformer und ehemaliger Mitglieder unter starken Beschuss; unter den Kritikern befindet sich auch ein ehemaliger leitender Mitarbeiter (ein Mitglied der leitenden Körperschaft), der zwei Bücher verfasste, die sich mit Einzelheiten der Geschichte der WTG, mit religiösen Praktiken und mit internen Konflikten beschäftigen 3, 4, und die zum ersten Mal die geheime innere Arbeitsweise dieser Religion enthüllte. Die Wirkung der Entscheidungen und Verfahrensweisen auf die einfachen Mitglieder der Religion werden in den Schriften anderer ehemaliger Mitglieder beschrieben 5, 6, 7. Eine weitere wichtige Entwicklung kommt durch den einfacheren Zugang zum Internet zustande, was gegenwärtigen und ehemaligen Mitgliedern ermöglichte, ihre Meinung offen auszusprechen, ohne Repressalien befürchten zu müssen 8 9 10. Jehovas Zeugen wird entschieden davon abgeraten, kontroverse religiöse Themen mit Nichtmitgliedern zu diskutieren, insbesondere nicht mit ehemaligen Mitgliedern, und sie können dafür ausgeschlossen (exkommuniziert) werden. Im allgemeinen ist die medizinische Gemeinschaft sich dieser Tatsachen nicht bewusst.
Folglich ergeben sich die folgenden ernsten Fragen: Sollten wir Ärzte weiterhin in den Fällen den Wünschen der ZJ-Patienten entsprechen, in denen ihre Bitte um eine blutfreie Behandlung sich einzig und allein auf die offizielle Haltung der WTG stützt, während sie die Argumente der Reformer und Dissidenten und die sich daraus ergebenden ethischen Fragen außer acht lassen? Wie können wir es vermeiden, unsere eigenen ethischen Grundsätze über Bord zu werfen, wenn wir von unethischen Praktiken Kenntnis haben, die die eigenständige Entscheidung des einzelnen ZJ in Frage stellen? Im Teil 1 möchte ich die Ansichten der Dissidenten besprechen und die möglichen Auswirkungen auf medizinisches Fachpersonal besprechen.
2. Geschichte und Lehrgebäude
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, eine detaillierte Darstellung der Geschichte und der Lehre der ZJ vorzulegen. Eine exzellente Monographie ist verfügbar 5. Die Religion begann als kleine unscheinbare Gruppe in den 1870er Jahren in Pennsylvania/ USA unter der Leitung von Charles Taze Russell. Er borgte viele seiner Ideen von den Adventisten und anderen apokalyptischen Sekten, die Spekulationen über das "Ende der Welt" in biblischen Prophezeiungen anstellten. Im Jahre 1884 gründete Russell die WTG als gesetzliche Körperschaft für die "Internationalen Bibelforscher", die 1931 ihren Namen in "Zeugen Jehovas" umänderten. Russell lehrte, dass Jesus im Jahr 1874 unsichtbar vom Himmel zurückgekehrt war, um über die Erde zu regieren, indem er Gottes Königreich aufrichtete, und dass im Jahr 1914 Jesus kommen würde, um die Erde zu richten und die politischen, sozialen, ökonomischen und religiösen Einrichtungen dieser Welt zu zerstören. Als im Jahre 1914 nichts Übernatürliches geschah und Russell 1916 enttäuscht starb, fiel die Religion nahezu auseinander. Mit seinem Charisma formte jedoch der zweite Präsident, Joseph Franklin Rutherford, die Religion um, veränderte das Lehrgebäude viele Male, einschließlich der Vorhersage von Harmagedon für 1918, 1920 und 1925, und verschob die unsichtbare Rückkehr Jesu Christi von 1874 auf 1914. Jehovas Zeugen betrachten sich als die einzig wahren Christen, während alle anderen christlichen Konfessionen zur sogenannten "abtrünnigen Christenheit" gehören.
Die Lehren, die für ein Verständnis des Gedankengutes von ZJ und ihren Gehorsam gegenüber der Blutpolitik entscheidend sind, können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1) Harmagedon ist nahe, und durch Harmagedon wird die ganze Menschheit außer treuen ZJ, die für immer auf der Erde leben werden, zerstört; 2) Die leitende Körperschaft der WTG wird als der "treue und verständige Sklave", auf den sich Jesus in seiner Parabel in Matthäus 24:45 bezieht, angesehen. Sie ist als Führung der ZJ direkt von Gott eingesetzt; 3) Die Bibel kann nicht ohne Auslegung durch den "treuen und verständigen Sklaven" verstanden werden; 4) ZJ, die die Leitung und die Organisation offen kritisieren, werden als Abtrünnige angesehen, die Jesus und Gott gegenüber illoyal sind. 5) Rettung ist davon abhängig, wie gut sich jemand als loyaler ZJ verhält.
3. Kritik und Meinungsunterschiede
Vor kurzem geäußerte Kritik von Dissidenten und internen Reformern enthüllt mehrere wichtige Praktiken von ZJ, die eine kritische Rolle für die Frage spielen, ob wir unsere moralische Unterstützung ihrer Blutpolitik überdenken sollten. Hier möchte ich vier Praktiken besprechen, die wiederholt kritisiert werden: Einschüchterung und Bestrafung, um striktes, konformes Befolgen der WTG-Politik zu erzwingen, eingeschränkte Rede- Gedanken- und Entscheidungsfreiheit; Vertrauensbruch durch interne Informanten; sowie Ungereimtheiten und Widersprüche, die den einfachen ZJ vorenthalten werden. Dieses Material gründet sich auf die eigenen Veröffentlichungen der WTG und dem Zeugnis gegenwärtiger und ehemaliger ZJ.
Zwang zu Konformität
Zeugen Jehovas werden angewiesen, Freunde oder Verwandte zu meiden, die die Organisation förmlich verlassen haben oder die gezwungen werden zu gehen (durch Gemeinschaftsentzug). Ehemalige ZJ, die eine andere Meinung als ihre Führer äußern, erhalten das Etikett "Abtrünnige" und werden genauso behandelt wie diejenigen, die wegen sexueller Unmoral oder anderer schwerwiegender Sünden exkommuniziert werden. Die offizielle Zeitschrift der ZJ, der Wachtturm schrieb über den Umgang mit "Abtrünnigen" folgendes:
Ähnlich verhält es sich, wenn ein Elternteil oder ein Sohn oder eine Tochter ausgeschlossen worden ist oder die Gemeinschaft verlassen hat. Die verwandtschaftlichen Bande bleiben bestehen. Heisst das aber, dass nach dem Gemeinschaftsentzug dieses Angehörigen innerhalb der Familie alles beim alten bleibt? Sicher nicht. Ein Ausgeschlossener ist geistig von der Versammlung abgeschnitten worden; die früheren geistigen Bande sind völlig aufgelöst worden. Das trifft selbst auf seine Angehörigen zu, auch auf die im engsten Familienkreis. Sie haben - obschon sie die Familienbande anerkennen - keine geistige Gemeinschaft mehr mit ihm. 11
Wahre Christen teilen Jehovas Empfindungen gegenüber Abtrünnigen; sie möchten gar nicht wissen, was für Vorstellungen diese vertreten. Im Gegenteil, sie 'empfinden Ekel' gegenüber denjenigen, die sich zu Gottes Feinden gemacht haben, aber sie überlassen es Jehova, Rache zu üben. 12
Eingeschlossen in den sogenannten "Abtrünnigen" ist eine beträchtliche Anzahl Abweichler aus Gewissensgründen und diejenigen, die ohne zu bereuen Blutprodukte zugelassen haben. ZJ werden eindringlich aufgefordert, ihre persönlichen Bindungen an sie zu lockern, ein Verstoß dagegen setzt sie selber einem Gemeinschaftsentzug aus. Außenstehende mögen das Trauma, wie es ein Verlassen der Organisation mit sich bringt, nicht nachvollziehen können, aber für ZJ bedeutet es völlige Isolation von ihren Freunden und Familienangehörigen, die in der Organisation verbleiben. Sofern sie nicht bereuen und um Wiederaufnahme bitten, gibt es für sie keine Hoffnung auf eine Auferstehung, und ewige Vernichtung ist ihre einzige Zukunftsaussicht. Das psychologische Trauma ist verheerend. Es gibt keinen ehrenhaften Weg für ZJ, die Organisation zu verlassen.
Fehlende Rede- und Gedankenfreiheit
Ein sehr ernstes Problem ist, dass es eine Redefreiheit, oder genauer, eine Gedanken- und Entscheidungsfreiheit, für ZJ nicht gibt. Diese Freiheiten spielen eine entscheidende Rolle, wenn es um die Selbstbestimmung in medizinischen Angelegenheiten geht, sie werden aber in der medizinischen Literatur selten erwähnt. Raymond Franz, ein ehemaliges Mitglied der leitenden Körperschaft stellt fest: 'Durch WT-Indoktrination sehen Zeugen Jehovas 'unabhängiges Denken' als Sünde an, als ein Zeichen der Illoyalität Gott und seinem ernannten "Kanal" gegenüber. 13 Der Wachturm warnt ZJ in scharfen Worten vor "unabhängigem Denken":
Vermeide unabhängiges Denken. Satan zog schon zu Beginn seiner Auflehnung Gottes Handlungsweise in Frage. Er trat für unabhängiges Denken ein. 'Du kannst selbst entscheiden, was gut und böse ist', sagte er zu Eva. 'Du musst nicht auf Gott hören. Er sagt dir in Wirklichkeit gar nicht die Wahrheit' ... Wie macht sich dieses unabhängige Denken bemerkbar? Im allgemeinen dadurch, dass der Rat, den Gottes sichtbare Organisation gibt, in Frage gestellt wird ... Doch gewisse Personen wollten es besser wissen. Sie haben sich gegen diesen Rat aufgelehnt und das getan, was in ihren Augen recht war. Was war die Folge? Viele von ihnen haben sich in geschlechtliche Unsittlichkeit verstrickt und haben in geistiger Hinsicht ernsten Schaden genommen. 14
Viele Abtrünnige appellieren an das Ego und behaupten, man habe uns unserer Freiheiten beraubt, auch der Freiheit, die Bibel selbst auszulegen ... Aber in Wirklichkeit zielen sie darauf ab, andere zu beschmutzen, und sie haben nichts anderes zu bieten als die Rückkehr zu den widerlichen Lehren Gross-Babylons [Was alle andere Religionen bedeutet - Anmerkung des Übersetzers] ... Diese glattzüngigen Schwätzer haben vielleicht äußerlich, das heißt in physischer und moralischer Hinsicht, ein reines Aussehen. Aber in geistiger Hinsicht sind sie unrein, weil sie einer stolzen, unabhängigen Denkweise verfallen sind. 15
Eine solche geladene Sprache entmutigt eine offene Diskussion kritischer Themen, ja selbst das Nachdenken darüber. In Verbindung mit dem drohenden Ausschluss - der in Harmagedon Vernichtung und ewige Auslöschung sowie den unmittelbaren Verlust der Familie und Freunde bedeutet - zwingt sie ZJ wirkungsvoll, sich blind den Ansichten der WTG unterzuordnen.
Furcht vor Vertrauensbruch
Zeugen Jehovas sehen sich Zwängen durch Informanten in ihren eigenen Reihen ausgesetzt. Man lehrt sie, ihre Mitbrüder den Versammlungsältesten bei schweren Vergehen gegen die Regeln der Gesellschaft zu melden. Der folgende Artikel aus dem Wachtturm veranschaulicht ihre Haltung. Der Artikel mit dem Titel "Eine Zeit zum Reden - Wann?" bespricht, ob eine hypothetische Maria, die in einem Krankenhaus arbeitet, verpflichtet ist, vertrauliche Patienteninformationen über Mitglieder von ZJ den Versammlungsältesten zu melden:
MARIA arbeitet als medizinisch-technische Assistentin in einem Krankenhaus. Sie ist verpflichtet, was sie beruflich erfährt oder beobachtet, als Berufsgeheimnis zu wahren. Auch muss sie dafür sorgen, dass schriftliche Unterlagen und andere Informationen über Patienten nicht an unbefugte Personen weitergegeben werden. In dem Land, in dem sie wohnt, gibt es ein Gesetz, das die Weitergabe von vertraulichen Informationen über Patienten regelt.
Eines Tages saß Maria in einer Zwickmühle. Als sie Krankenberichte bearbeitete, stieß sie auf eine Information, die besagte, dass eine Patientin, eine Mitchristin, eine Abtreibung vornehmen ließ. Hatte sie die biblische Verpflichtung, diese Information an die Ältesten ihrer Versammlung weiterzugeben, obwohl sie dadurch in die Gefahr geriet, ihre Stelle zu verlieren, gerichtlich belangt zu werden oder ihrem Arbeitgeber rechtliche Schwierigkeiten zu bereiten?. 16
Nach einer Betrachtung "biblischer Grundsätze", die auf diese hypothetische Situation Anwendung finden, fährt der Artikel damit fort, wie Maria reagierte:
Maria fürchtete erst ein bisschen die rechtlichen Konsequenzen, doch dann kam sie zu der Überzeugung, dass in diesem Fall die biblischen Grundsätze mehr Gewicht hatten als die Forderung, die ärztlichen Unterlagen vertraulich zu behandeln ... Nachdem Maria alle ihr zur Verfügung stehenden Tatsachen erwogen hatte, beschloss sie mit gutem Gewissen, dass das eine Zeit zum "Reden" und nicht zum "Schweigen" sei.
Der Artikel argumentiert, dass es ... daher Fälle [gibt], in denen ein Christ verpflichtet ist, die Ältesten von einer Sache zu unterrichten, da das Gesetz Gottes den Forderungen der "weltlichen Obrigkeiten" übergeordnet ist. Der Artikel schließt folgendermaßen ab:
Manchmal wird ein treuer Diener Gottes aus Überzeugung, gestützt auf seine Kenntnisse des Wortes Gottes, die Schweigepflicht wegen der höherrangigen Forderungen des göttlichen Gesetzes teilweise oder ganz brechen.
Diese Lehre findet offensichtlich Anwendung auf ZJ, die durch ihren Beruf Zugang zu vertraulichen Patienteninformationen über Bluttransfusionen haben, die insgeheim Mitgliedern von ZJ verabreicht worden sein mögen. Während der Artikel ein hypothetisches Beispiel erwähnt, zeigt die folgende Fußnote, dass ZJ den Rat im wirklichen Leben anwenden:
Maria ist eine erdachte Person. Sie ist in einer Lage, in der sich schon etliche Christen befunden haben. Wie sie das Problem angeht, ist ein Beispiel dafür, wie einige Christen in einer solchen Lage biblische Grundsätze angewandt haben
Dieser Artikel und andere Beweise deuten darauf hin, dass ZJ aus Furcht vor einem Vertrauensbruch durch interne Informanten einer Nötigung ausgesetzt sind. Wo ZJ als medizinisches Personal eingesetzt werden, können ZJ-Patienten nicht davon ausgehen, dass die Schweigepflicht zwischen Arzt und Patienten gewahrt bleibt, da in diesem Fall gemäß der Lehre der WTG "das Gesetz Gottes" einschließt, dass der Zweck die Mittel heiligt.
4. Geschichte der Blutdoktrin
Ärzte wissen wenig über die Geschichte der Blutdoktrin und ihrer Durchsetzung, was für die medizinische Ethik zu Fragen Anlass gibt. Ich denke, dass der Mangel an diesem Hintergrundwissen in der medizinischen Gemeinschaft zu ihrer im allgemeinen unterstützenden Haltung beiträgt, auch wenn viele Ärzte mit den Praktiken nicht einiggehen.
Sich verändernde Einstellungen zur Medizin
In der Geschichte der WTG gab es in medizinischen Angelegenheiten eine ständige Veränderung ihrer Lehren. Dies schließt eine Kampagne gegen Kochgeschirr aus Aluminium sowie Angriffe auf die American Medical Association und Ärzte ein, wie aus dem folgenden hervorgeht:
Wir tun gut daran, im Sinn zu behalten, dass es unter den Medikamenten, Seren, Impfstoffen, chirurgischen Operationen usw. des medizinischen Berufsstandes nichts von wirklichem Wert gibt, außer gelegentlich eine Operation. Ihre sogenannte 'Wissenschaft' entspringt ägyptischer schwarzer Magie und hat niemals ihren dämonischen Charakter verloren ... Wir wären in einem traurigen Zustand, wollten wir das Wohl der Menschheit in ihre Hände legen .... 17
Wenige erinnern sich, dass die WTG einstmals Impfungen und Organtransplantationen mit scharfen Worten und flammender Rhetorik verurteilte. Die Grundlage für ihr Verbot waren die gleichen Bibelauslegungen, wie sie auch beim gegenwärtigen Blutverbot angeführt werden. Diese Praktiken waren gegen "Jehovas immerwährenden Bund mit der Menschheit"(Genesis 9:4). Sie bezeichneten Impfungen als ein "Verbrechen, ein Skandal und eine Irreführung" und "die barbarischste Praxis" 18, und belegten Organverpflanzungen mit einem Verbot, mit der Begründung, es wäre 'Kannibalismus'. 19 In aller Stille stießen sie ihre Ansichten wieder um, als dies gängige medizinische Methoden wurden. Die allermeisten ZJ nahmen diese Abkehr hin, ohne zu hinterfragen, welche Tragödien durch diese fehlgeleiteten Lehren verursacht worden waren. Impfungen und Organtransplantationen, die einstmals genauso heftig abgelehnt wurden, wie es heute bei Bluttransfusionen der Fall ist, überlässt die WTG heute der "Gewissensentscheidung" des einzelnen. Die meisten ZJ unterziehen sich diesen Behandlungsmethoden routinemäßig, und heutige WTG-Publikationen heben lobend den Nutzen von Impfungen 20 und erfolgreichen Herzverpflanzungen 21 hervor.
Während die meisten Menschen sich ständig verändernde religiöse Lehren ablehnen, werden ZJ dazu angehalten, solche Änderungen zu begrüßen, wobei sie sich auf Sprüche 4:18 stützen: Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Licht, das heller und heller wird, bis es voller Tag ist. 22 Sie werden gelehrt, dass sich verändernde Lehren als "neues Licht" oder von Gott erteiltes verbessertes Verständnis begrüßt werden sollten und dass dies ein Beweis dafür sei ,dass sie sich auf dem "Pfad der Gerechtigkeit" befinden.
Die biblische Grundlage der Blutdoktrin
Das Verbot von Bluttransfusionen wurde erstmals im Wachtturm vom 1. Juli 1945 [engl. Ausgabe] verbreitet. Es gibt bisher noch keine eindeutige Erklärung, warum diese medizinische Behandlung plötzlich verboten wurde, obwohl sie bereits seit dem ersten Weltkrieg angewandt wurde. Ein Kulturanthropologe bot als Erklärungsmöglichkeit an, dass die Lehre verbreitet wurde, um den inneren Zusammenhalt der Sekte wiederherzustellen und zu festigen.23 Die Doktrin gründet sich auf drei Bibelstellen, die wir vom Standpunkt sowohl der ZJ als auch der Dissidenten betrachten wollen. Man beachte, um zur Schlussfolgerung zu kommen, Buttransfusionen seien unbiblisch, muss die WTG Transfusionen mit dem Essen von Blut gleichsetzen, da die Bibelschreiber noch nichts von Transfusionen wussten.
Die erste Passage stammt aus Genesis 9:4, wo Gott (Jehova) einen Bund mit Noah schließt: Nur Fleisch mit seiner Seele - seinem Blut - sollt ihr nicht essen. Die WTG sagt, dass das Verbot, Blut zu essen, Teil eines "ewigwährenden Bundes mit der Menschheit" darstellt. Dies steht jedoch im Widerspruch mit manchen ihrer anderen Auslegungen. Die WTG verbietet keineswegs Methoden der Geburtenkontrolle, was ein klarer Bruch des ersten Teiles dieses Bundes ist: Seid fruchtbar und werdet viele, und füllt die Erde (Genesis 9:1). Der Widerspruch besteht darin, dass sie einem Teil des Bundes gehorchen, aber den anderen ignorieren. Die Mehrheit christlicher Bibelgelehrter glaubt, nebenbei erwähnt, dass der Bund mit Noah für die Menschheit keine Verpflichtung mehr darstellte, nachdem der Neue Bund durch Jesus Christus errichtet worden war.
Die zweite Stelle stammt aus Levitikus 17:10-16, wo Gott Moses ein Gesetz erteilte, das besagte: Keine Seele von euch soll Blut essen, und kein ansässiger Fremdling, der als Fremdling in eurer Mitte weilt, soll Blut essen. (Levitikus 17:12). Das zeigt in der Tat, dass Gott den Juden verboten hatte, Blut zu essen. Der Wachtturm lehrt jedoch, dass Christen nicht unter dem Mosaischen Gesetz stehen, was die Ernährungsvorschriften wie z. B. das Verbot, Schweine oder Aale zu essen, einschließt. Widersprüche ergeben sich aus ihrer Argumentation, dass nur e i n Gesetz verpflichtend wäre. Das geht aus Levitikus 3:17 hervor: Es ist eine Satzung auf unabsehbare Zeit für eure Generationen, an allen euren Wohnorten: Ihr sollt überhaupt kein Fett noch irgendwelches Blut essen. Das Gesetz verbietet hier das Essen von Fett und Blut im gleichen Atemzug; und doch verbietet die WTG nur das Essen von Blut und davon abgeleitet Bluttransfusionen.
Die dritte Stelle ist in Apostelgeschichte 15 zu finden, wo Jakobus vorschlug, einen Brief an die Heidenchristen zu schreiben, in dem er sie dazu anhielt, die jüdischen Bräuche folgendermaßen zu befolgen:
Denn der heilige Geist und wir selbst haben es für gut befunden, euch keine weitere Bürde aufzuerlegen als folgende notwendigen Dinge: euch von Dingen zu enthalten, die Götzen geopfert wurden, sowie von Blut und von Erwürgtem und von Hurerei. Wenn ihr euch vor diesen Dingen sorgfältig bewahrt, wird es euch gutgehen. Bleibt gesund! (Apostelgeschichte 15:28,29)
Ein Problem mit der Anwendung dieses Verses auf Bluttransfusionen ist der fehlende Nachweis, dass dieser Vers als ein immerwährendes Gebot für alle Christen und im absoluten Sinn gemeint war. Die meisten Gelehrten erklären Apostelgeschichte 15 folgendermaßen: das sogenannte Apostelkonzil wurde wegen eines Disputes um die Frage abgehalten, ob die Heidenchristen in Übereinstimmung mit dem Mosaischen Gesetz beschnitten werden sollten. Das Konzil entschied, Christen stünden nicht unter dem Mosaischen Gesetz, aber um ein friedliches Miteinander zwischen Juden- und Heidenchristen aufrechtzuerhalten, entschied sich das Apostelkonzil dafür, die Heidenchristen zu bitten, den heikelsten jüdischen Traditionen zu folgen und das schloss ein, das Essen von Blut zu meiden. Diese Interpretation wird durch Paulus gestützt, der lehrte, dass das Essen von Nahrung, die Götzen geopfert worden war, eine Sache des Gewissens sei, auch wenn es in Apostelgeschichte 15 im gleichen Satz wie das Essen von Blut erwähnt wird.(1 Korinther 8:4-8)
Ironischerweise verstand der Gründer der WTG, Charles Taze Russel Apostelgeschichte 15 in Übereinstimmung mit vielen Bibelgelehrten, und er betrachtete die Haltung, kein Blut zu essen, als eine Grundlage für ein friedliches Miteinander zwischen Juden und Heiden, und notwendig für den Frieden der Kirche und nicht als ein ewiggültiges Gesetz für alle Christen. 24 Würde Russels Interpretation von der WTG heute angenommen, wäre das Blutverbot aus der Welt geschafft. Den meisten ZJ ist das unbekannt.
Eine Bluttransfusion ist das Gleiche wie das Essen von Blut
Die WTG argumentiert, da die Bibel das Essen von Blut verbietet, sollten ZJ auf keinem Weg, einschließlich einer Bluttransfusion, Blut in ihren Körper aufnehmen. Da diese Schlussfolgerung in der Bibel so nicht zu finden ist, nehmen sie Zuflucht zu einem Zirkelschluss, um medizinische Behandlungen mit Blutprodukten mit dem Essen von Blut gleichzusetzen. Um dies zu stützen, zitieren sie einen Anatomen des 17. Jahrhunderts, Thomas Bertolin 25 und den französischen Arzt Jean Baptiste Denys, 26 um aufzuzeigen, dass Bluttransfusionen einer Aufnahme von Nahrung durch den Mund gleichkommt. Die WTG "vergisst" zu erwähnen, dass die moderne Medizin eine solche Vorstellung schon vor vielen Jahrzehnten verworfen hat. Bluttransfusionen, wie sie gegenwärtig praktiziert werden, ersetzen lediglich Funktionen, die durch Blutverluste verloren gegangen sind, wie z. B. den Sauerstofftransport - ein Konzept, das sich gänzlich von den Vorstellungen gewisser Ärzte des siebzehnten Jahrhunderts unterscheidet.
Die WTG benutzt die folgende Analogie:
"Ein Krankenhauspatient mag durch den Mund, durch die Nase oder durch die Venen ernährt werden. Wenn Zuckerlösungen intravenös verabreicht werden, nennt man das eine intravenöse Ernährung. Demnach erkennt die eigene Terminologie der Medizin den Vorgang, Nahrung in das System eines Menschen aufzunehmen, als Ernährung an. Somit ernährt der Mitarbeiter, der die Transfusion anwendet, den Patienten durch die Venen und der Patient, der sie empfängt, nimmt durch seine Venen Nahrung zu sich. 27
Eine neuere Variante dieses Szenarios ist folgende:
Wenn ein Krankenhauspatient keine Nahrung durch den Mund aufnehmen kann, wird er intravenös ernährt. Würde nun jemand, der zwar kein Blut in den Mund nimmt, sich aber eine Bluttransfusion geben lässt, wirklich dem Gebot, 'sich von Blut zu enthalten', gehorchen? (Apg. 15:29). Wie verhält es sich zum Beispiel mit jemandem, dem der Arzt dringend geraten hat, sich des Alkohols zu enthalten? Würde er den Rat befolgen, wenn er zwar aufhören würde, Alkohol zu trinken, ihn sich aber statt dessen direkt in die Venen spritzen würde? 28
Wie jeder Mediziner weiß, ist dies ein unangebrachtes Argument. Oral aufgenommener Alkohol wird als solcher absorbiert und zirkuliert als Alkohol im Blut, während gegessenes Blut verdaut werden muss und nicht in den Blutkreislauf eintritt. Blut, das in die Venen eingeleitet wird, zirkuliert und funktioniert wie Blut und nicht wie ein Nahrungsmittel. Dementsprechend ist eine Bluttransfusion eine Art zellulärer Organtransplantation. Und wie vorhin erwähnt sind Organtransplantationen jetzt erlaubt. Diese Ungereimtheiten sind für Ärzte und andere rational denkende Menschen offensichtlich, sie werden aber von ZJ wegen der strikten Politik, sich vor kritischen Argumenten zu verschließen, nicht wahrgenommen. Sie betrachten die unlogische Analogie der WTG weiterhin als "die Wahrheit".
Willkürliche Regeln über verbotene und erlaubte Blutbestandteile
Das anfängliche Verbot, Blut zu verwenden, bezog sich auf Transfusionen von Vollblut, aber über die Jahre entwickelten sich viele Regeln und Ausnahmen. Zum Beispiel veröffentlichte die WTG einmal einen Artikel, in dem ZJ angewiesen wurden, ihren Haustieren keine Bluttransfusionen zu geben und keinen Dünger, der Blut enthält, zu verwenden. 29 Der medizinische Gebrauch von Blutegeln war ebenfalls verboten 30. Diese Praktiken wurden ebenfalls als "gegen Gottes Wort" gerichtet bezeichnet.
In jüngerer Vergangenheit schuf die WTG, da bei medizinischen Behandlungen hauptsächlich Blutbestandteile anstelle von Vollblut verwendet werden, eine Liste verbotener und erlaubter Bestandteile. Die unter ZJ und der medizinischen Gemeinschaft bekannteste Veröffentlichung, die ihre Regeln in bezug auf Behandlungen mit Blut abhandelt, erschien im Jahr 1981 in der Zeitschrift The Journal of the American Medical Association. 31 Der Artikel fasst die grundsätzlichen Richtlinien bei der Behandlung von ZJ mit Blutprodukten zusammen. Er wurde von einem ZJ-Arzt, Dr. Lowell Dixon verfasst, der der Leiter der medizinischen Abteilung im Wachtturm-Hauptquartier in Brooklyn, New York gewesen war. Dieser präzise Artikel vermittelte der medizinischen Gemeinschaft klar und verständlich die Haltung der ZJ in bezug auf Behandlungen mit Blutprodukten. Der Artikel wird seitdem in der medizinischen Literatur oftmals als eine Richtlinie für die Behandlung von ZJ zitiert.
Die gegenwärtige Haltung der ZJ schließt eine bedingungslose Verweigerung von Konzentraten aus roten Blutkörperchen, weißen Blutkörperchen, Blutplättchen und Plasma ein. Sie dürfen jedoch Albumin, Immunglobuline und Präparate für Bluter annehmen. Diese Bestandteile werden als eine "Sache des Gewissens" angesehen. Der vielleicht merkwürdigste und widersprüchtlichste Aspekt der Verfahrensweise der ZJ ist, dass sie alle einzelnen Bestandteile von Blutplasma annehmen dürfen, nur alle zusammen dürfen nicht angewandt werden. Darüber hinaus akzeptieren ZJ nicht einmal autologe Transfusionen ihres eigenen, vorher gespendeten Blutes, obwohl eine Blutrückgewinnung während der Operation akzeptiert wird, zumindest solange der sich außerhalb des Körpers befindende Blutkreislauf durch einen Schlauch aufrechterhalten bleibt. Sie dürfen auch eine Behandlung mit der Herz-Lungen-Maschine oder eine Hämodialyse durchführen lassen. Erst vor kurzem wurde auch die induzierte Hämodilution erlaubt.
Die WTG hat keine biblische Erklärung anzubieten, wie sie zwischen den verbotenen Behandlungsmethoden und den Methoden, die einer "Gewissensentscheidung" unterliegen, differenziert. Die Unterscheidung beruht allein auf Entscheidungen, die willkürlich von der Leitenden Körperschaft getroffen werden. Wenn eine neue Behandlung mit Blut oder Blutprodukten verfügbar wird, trifft die Leitende Körperschaft letztendlich die Entscheidung über ihre Zulässigkeit, bevor sie angewendet werden darf. 32 33 Von Jehovas Zeugen wird eine strikte Befolgung der so aufgestellten Regeln verlangt, unter Hinweis darauf, dass es sich um biblisch gestützte "Wahrheiten" handelt.
Die Leitende Körperschaft lehrt, dass es sich bei den "verbotenen" Blutbestandteilen um die Hauptbestandteile handelt, während es sich bei den annehmbaren um "winzige" oder untergeordnete Anteile handelt, wobei darauf hingewiesen wird, dass die untergeordneten Bestandteile auf diejenigen beschränkt sind, die während einer Schwangerschaft die Plazentaschranke überschreiten können und dass sie ZJ auf dieser Grundlage mit gutem Gewissen annehmen dürfen. 34 Dies scheint vernünftig zu sein, wäre da nicht die Tatsache, dass auch die meisten Hauptbestandteile die Plazentaschranke überschreiten können. 35
Eine leichte Ironie besteht darin, dass sich die meisten ZJ nicht bewusst sind, dass Albumin (einer der erlaubten Bestandteile) einen Anteil von 2.2% am Volumen des Blutplasmas aufweist, während weiße Blutkörperchen und Blutplättchen (verbotene Bestandteile) nur 1% bzw. 0.17% darstellen. Patienten, die ZJ sind, und ihre Ärzte müssen es irgendwie verarbeiten, dass gewisse "winzige" Blutbestandteile erlaubt sein können, während die WTG gleichzeitig hartnäckig lehrt, dass das Gebot, sich von Blut zu enthalten, bedeutet, überhaupt kein Blut in unseren Körper aufzunehmen. 36 Die WTG bleibt auch die Erklärung schuldig, warum es erlaubt ist, die großen Mengen Blut, die zur Herstellung der "winzigen Anteile" notwendig sind, die ZJ annehmen dürfen, zu spenden, zu lagern und zu verarbeiten. Und doch lehren ZJ, dass Blut für keinerlei Zweck verwendet werden darf und verbieten Blutspenden unter Androhung der gleichen Bestrafung wie für Bluttransfusionen. 37
Übertriebene negative Kampagnen gegen Bluttransfusionen
Viele Veröffentlichungen der WTG stellen die Gefahren von Bluttransfusionen heraus und betonen die Vorteile von Alternativen zu Bluttransfusionen. Ihre Zeitschriften enthalten tragische Geschichten und negative Zitate aus medizinischen Fachzeitschriften und der Presse über die Gefahren von Blut. Man muss nicht besonders betonen, dass Bluttransfusionen erhebliche Risiken in sich bergen und Patienten darüber aufgeklärt werden sollten. Die WTG zeichnet jedoch ein verzerrtes Bild, weil sie niemals auf die Vorteile einer Behandlung mit Blutprodukten aufmerksam macht. Genau wie bei der Kampagne gegen Organtransplantationen und Impfungen benutzt sie Übertreibung und Gefühlsduselei, um in den Köpfen der ZJ eine paranoide Angst vor Bluttransfusionen zu erzeugen, während sie auf der anderen Seite keine objektive Kosten-Nutzen-Analyse anstellt. Sie übergeht höhere Risiken und erhöhte Kosten einiger alternativer Behandlungsmethoden und erkennt auch nicht an, dass in einigen Situationen gar keine Alternative vorhanden ist. Der folgende Absatz aus ihrer offiziellen Zeitschrift veranschaulicht den Verfolgungswahn, den die Gesellschaft verbreitet, durch den Bluttransfusionen zu einer "Inszenierung Satans" werden.
Von allen Seiten wird der Glaube der Zeugen Jehovas angegriffen - von der Geistlichkeit der Christenheit, die die Königreichsbotschaft, die wir von Haus zu Haus verbreiten, hasst, von Abtrünnigen, die mit der Geistlichkeit der Christenheit zusammenarbeiten, von Medizinern, die uns und unseren Kindern Bluttransfusionen aufzwingen wollen, ... All das wird von Satan, dem Herrscher der Finsternis und Unwissenheit, dem Feind genauer Erkenntnis, inszeniert." 38
Als ein Ergebnis dieser Verbalakrobatik werden viele ZJ zu der Ansicht verleitet, dass eine Bluttransfusion so gefährlich ist wie russisches Roulett. 39 Sie können nicht erkennen, dass Blut nicht in dem Ausmaß angewandt werden würde, wie es Ärzte, deren Hauptanliegen es ist, Leben zu retten und Krankheiten zu heilen, heute verwenden, falls Bluttransfusionen nicht ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt hätten.
5. Diskussion
In diesem kritischen Überblick habe ich die Geschichte und die religiösen Praktiken vorgestellt, die hinter der Verweigerung von Blutprodukten durch ZJ steht. Der größte Teil der Informationen wurde durch Reformer und Dissidenten aufbereitet und kann in den eigenen Veröffentlichungen der WTG nachgelesen werden, und doch wird keiner dieser Punkte den "einfachen" ZJ unvoreingenommen unterbreitet. Solche Standpunkte werden als "abtrünnig" angesehen, und deswegen werden Zeugen Jehovas davor gewarnt. Es gibt in der Gemeinde der ZJ sowohl einen offenen als auch einen versteckten Zwang, kritischen Informationen nicht nachzugehen und zu untersuchen.
Wie kann ein Arzt gegenüber seinen ZJ-Patienten die obigen Gesichtspunkte berücksichtigen? Erstens kann er oder sie in Betracht ziehen, dass Zwänge und Fehlinformationen die Autonomie von ZJ-Patienten in Frage stellen. Wenn Patienten wirklich eigenverantwortliche Entscheidungen treffen wollen, müssen sie frei sein von ungebührlicher Einschüchterung durch eine Organisation, sie dürfen keine Angst vor Repressalien haben und Zugang zu genügend Informationen, einschließlich alternativer Ansichten. Die Informationen, die hier vorgestellt werden, legen nahe, dass die Annahme der meisten Ärzte, dass ZJ autonome Entscheidungen treffen können, fundamental falsch ist.
Ärzte sollten auch ZJ-Patienten mehr als Individuen ansehen und beachten, dass der Standpunkt individueller ZJ-Patienten in weiterem Umfang variieren kann als bisher angenommen. Die gegenwärtige Praxis der Einordnung von ZJ in eine festgefügte Kategorie sollte überdacht werden, und der Möglichkeit eines "unorthodoxen" Glaubens nachgegangen werden.
Man mag einwenden, dass ZJ sich ihrer Religion aus eigenem Entschluss angeschlossen haben und dass sie, wenn sie einmal der Organisation angehören, aus freien Stücken und ungeachtet von inneren Konflikten, die Regeln befolgen, die von ihren Führern aufgestellt werden. Weiterhin mag man argumentieren, religiöse Freiheit schließe die Freiheit ein, an irrationale Ideen zu glauben und sich zwangausübenden Gruppen anzuschließen. Abweichlerischen Ansichten Aufmerksamkeit zu schenken könnte als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Religion betrachtet werden.
Das Wissen um die Möglichkeiten psychologischer Manipulation, einschließlich Informationskontrolle und Zwangausübung gewisser religiöser Gruppierungen, sollte dieses Argument jedoch entkräften. Viele gegenwärtige und ehemalige ZJ stimmen damit überein, dass die ZJ-Organisation viele der genannten Elemente aufweist. Ich schlage vor, dass die Autonomie der Mitglieder solcher Gruppen im Lichte ihrer unethischen Praktiken geprüft werden sollte.
Einige mögen die Verlässlichkeit der Informationen aus den Kreisen der Dissidenten und Reformern in Frage stellen, besonders was das Internet als Informationsquelle angeht, dessen Ethik sich noch auf einer sehr primitiven Stufe bewegt. Obwohl man Vorsicht walten lassen muss, will man sich auf Informationen im Internet verlassen, so meine ich doch, dass es ein beispielloses Forum bietet, wo nicht nur Dissidenten, sondern auch ZJ selbst wegen der Anonymität, die das Internet bietet, ohne Repressalien von seiten der WTG befürchten zu müssen, ihre Bedenken äußern können. Da es für ZJ im wesentlichen keinen anderen Weg gibt, um öffentlich ihre Bedenken auszusprechen, sollten Bioethiker in Erwägung ziehen, das Internet zu nutzen, um "inoffizielle" aber wichtige Informationen in bezug auf die Patienten, die zu solchen religiösen Gruppen gehören, zu erhalten.
Im Begleitpapier, Teil II 40 werde ich, gestützt auf die hierin geäußerten Ansichten, eine rationale Vorgehensweise bei ZJ-Patienten, die Blutprodukte ablehnen, vorschlagen.
Erklärung
Die Ansichten und Meinungen, die hierin zum Ausdruck kommen, sind persönlich und spiegeln nicht die offizielle Ansicht von Kaiser Permanente and Pacific Permanente PC wieder.
Osamu Muramoto, MD, PhD, ist ein Mitglied der Ethikkommission bei der Kaiser Permanente Northwest Division, und ein Neurologe am Northwest Permanente PC, Portland, Oregon, USA. Korrespondenz richten Sie bitte an seine Adresse unter: Kaiser East Interstate Medical Office, 3414 N Kaiser Center Drive, Portland, Oregon 97227, USA. e-mail:muramotosa@kpnw.org
Anmerkung des Herausgebers:
In der Oktoberausgabe dieser Zeitschrift wird eine Antwort auf diesen Artikel, verfasst von David Malyon, Vorsitzender des Krankenhaus-Verbindungskomitees, Luton, erscheinen.
Literaturverweise und Anmerkungen
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13 Siehe Anmerkung 4:409.
14 Anonym. Die heimtückischen Anschläge des Teufels blossstellen. Der Wachtturm 1983, 15. April S.22
15 Anonym. Bleibst Du in jeder Hinsicht rein? Der Wachtturm 1987, 1. Nov S.19
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39 Anonym. Gabe des Lebens oder Todeskuss? Erwachet!, 1990, 22. Okt S.9.
40 Muramoto O, Bioethics of the refusal of blood by Jehovah's Witnesses: Part 2. A novel approach based on rational non-interventional paternalism. Journal of Medical Ethics 1998 (in press)
letzte Aktualisierung: 28. 12. 1999
Web-Adresse: http://geocities.datacellar.net/athens/ithaca/6236/ethik1.htm
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