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Bioethik der Verweigerung von Blut durch Zeugen Jehovas: Teil 3. Vorschlag einer Strategie nach dem Motto "Keine Fragen - keine Auskünfte" [don't-ask-don't-tell]
Osamu Muramoto Kaiser Permanente, Portland, Oregon, USA
Ethik  
Journal of Medical Ethics
Dezember 1999 Band 25 Nummer 4

Abstract

Eine der wachsenden Sorgen, die sich aus der Verweigerung von Blut durch Jehovas Zeugen (ZJ) ergibt, ist der Eingriff der religiösen Organisation in die persönliche Entscheidungsfindung bei der medizinischen Betreuung. Gegenwärtig werden diejenigen ZJ von der Organisation mit der schärfsten religiösen Sanktion belegt, die sich öffentlich für eine blutgestützte Behandlung entscheiden. Während eine Änderung dieser religiöse Doktrin nicht einfach zu erreichen ist, kann die Autonomie der einzelnen ZJ-Patienten geschützt werden, indem eine Modifizierung der gegenwärtigen Praxis eingeführt wird, die die strikte Vertraulichkeit persönlicher medizinischer Informationen beinhaltet. Der Autor schlägt vor, dass die kontrollierende religiöse Organisation eine neue Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" annimmt, durch die Zeugen Jehovas ermuntert werden, ihre persönlichen medizinischen Informationen weder einander noch der Kirchenorganisation mitzuteilen oder darüber Fragen zu stellen, während die fundamentale Doktrin der Verweigerung von Blut unverändert bestehen bleiben kann. Dies wird den Patienten auch die Angst vor einem Bruch der Vertraulichkeit medizinischer Informationen nehmen und so eine wahrhaft autonome Entscheidung in Bezug auf blutgestützte Behandlungsmethoden ohne Kontrolle oder Sanktion durch die Organisation sicherstellen.

Einleitung

In den vorherigen beiden Teilen dieser Serie 1 2 habe ich Beweise dafür vorgelegt, dass in der biomedizinischen Ethik der Verweigerung von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas (im folgenden ZJ) eines der schwierigsten Probleme durch die kontrollierende Einflussnahme der Kirchenorganisation (Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, im folgenden WTG) auf die Entscheidungsfindung der einzelnen ZJ in persönlichen medizinischen Angelegenheiten verursacht wird. Erwähnt wurden zwei Hauptfaktoren der Kontrolle durch die Organisation, welche die Autonomie des einzelnen ZJ-Patienten gefährdet: 1) die Informationskontrolle und 2) die Vorgehensweise der Organisation, Dissidenten zu bestrafen, die Blut erhalten und die sich für die Entscheidungsfreiheit einsetzen, auf Blut beruhende Behandlungsmethoden zu akzeptieren. Im zweiten Teil 2 habe ich das Vorgehen eines Arztes seinen ZJ-Patienten gegenüber vorgestellt, um eine solche Informationskontrolle zu brechen und autonomes Denken und autonome Entscheidungsfindung zu fördern. Im vorliegenden dritten Teil möchte ich der kontrollierenden Kirchenorganisation, der WTG, einen Vorschlag unterbreiten, ihre Praktik zu modifizieren, so dass die wirkliche Autonomie des Patienten geschützt wird, während gleichzeitig die zugrundeliegende Doktrin der Verweigerung von Blut aufrechterhalten werden könnte. Dieser Vorschlag berücksichtigt den Konflikt, der zwischen dem Schutz der Autonomie sowie der Vertraulichkeit der Daten der einzelnen Organisationsmitglieder (ZJ-Patienten) auf der einen und auf der anderen Seite der strengen Praktik einer religiösen Organisation (der WTG) besteht, die das individuelle Leben seiner Mitglieder kontrolliert.

Bluttransfusionen als eine freie Wahl ohne Kontrolle oder Sanktionen

Eine der bedeutendsten Entwicklungen seitdem die vorangegangenen zwei Teilen dieser Serie abgedruckt wurden, war die öffentliche Übereinkunft zwischen der WTG und der Regierung Bulgariens, die vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte geschlossen wurde. In dieser Übereinkunft behauptete die Wachtturm-Gesellschaft, dass sich ihre Mitglieder "ohne Kontrolle oder Sanktion von seiten der Vereinigung" .... " frei entscheiden" könnten, Bluttransfusionen anzunehmen. 3 Viele Jahre lang wurden ZJ, die willentlich Bluttransfusionen erhalten hatten und nicht bereuten, exkommuniziert ("ausgeschlossen") und geächtet. Dies wird als härteste Strafe dieser Religion betrachtet. Seit diese öffentliche Übereinkunft im März 1998 geschlossen wurde, hatte sie innerhalb und außerhalb der religiösen Organisation für Verwirrung gesorgt. Einige ZJ haben darin eine fundamentale Abkehr von der bisherigen Praxis gesehen und sie so verstanden, dass es ihnen nun freigestellt ist, Bluttransfusionen anzunehmen. Andere ZJ argumentieren, dass es keine Veränderung in der Praktik gegeben hätte, da ZJ Blut seit jeher aus ihrem eigenen freien Willen heraus Blut abgelehnt hätten. Es ist jedoch überhaupt nicht klar, wie die WTG die Zusicherung einer solchen freien Wahl der medizinischen Behandlung geben kann, wenn sie trotzdem die traditionelle Praxis der Exkommunizierung und Ächtung von Mitgliedern, wie z. B. reformerisch eingestellten ZJ, die die Blutdoktrin ablehnen und eine freie Wahl der medizinischen Behandlung befürworten, erzwingt.

Bis zur Zeit der Abfassung dieses Artikels (November 1999) hat die WTG in ihren offiziellen Veröffentlichungen einschließlich der beiden offiziellen Zeitschriften Der Wachtturm und das Erwachet!, die von allen Mitgliedern weltweit jede Woche studiert werden, Stillschweigen in dieser Angelegenheit bewahrt. Bisher gibt es von der WTG nur einige wenige öffentliche Kommentare zu diesem Thema, einige Informationen im Internet 4 und ein Rundfunkinterview eines WTG-Vertreters mit der BBC. 5 Es gab auch viele Internetpostings loyaler WTG-Mitglieder, die die Haltung der Gesellschaft zur bulgarischen Übereinkunft erklärten. Alle diese Postings und Kommentare zeigen, dass die WTG ihre fundamentale Praxis der Verweigerung von Blut nicht geändert hat, und doch betont sie weiterhin die Freiheit ihrer Mitglieder, in bezug auf die Annahme oder Ablehnung blutgestützter Behandlungsmethoden ihre eigenen medizinischen Entscheidungen treffen zu können.

In seiner Antwort auf die vorangegangenen Artikel dieser Serie führte Mr. Malyon, ein Mitglied des Krankenhaus-Verbindungskomitees der ZJ an, dass ZJ in der Tat eine freie Wahl haben. Er sagte „jeder Zeuge entscheidet in diesem Bereich selbst“, welche der verschiedenen Blutbestandteile er erhalten will.“ 6 Das klingt so, als ob ZJ in der Tat diese Freiheit zugestanden wird, wenn es da nicht die strikte Praktik der Organisation gäbe, dass der einzelne ZJ nicht für selbst bestimmen kann, welche Fraktionen er annimmt. Zum Beispiel kann jeder ZJ Albumin und Globuline auswählen. Aber Plasma und rote Blutkörperchen darf er nicht annehmen. Für die letztgenannte Gruppe von Blutbestandteilen gibt es keine freie Wahl. Die Einteilung wird von der kontrollierenden WTG entschieden. Sollte sich ein ZJ für einen der Blutbestandteile aus der letzteren Gruppe entscheiden, würde er sich einer Bestrafung ausgesetzt sehen. Dies also versteht die WTG unter einer "freien Wahl", was für diejenigen außerhalb dieser geschlossenen Gruppe ein völlig fremdes Konzept darstellt.

Das verbleibende ethische Dilemma

Vom Standpunkt des behandelnden Arztes aus gesehen haben wir eine ethische Verantwortung, uns völlig der autonomen Entscheidungsfähigkeit jedes ZJ-Patienten zu vergewissern und Zwänge in bezug auf blutgestützte Behandlungen auszuschließen. ZJ sollten eine buchstäbliche „freie Wahl ohne Kontrolle oder Sanktion durch die Organisation“ haben. 3 Solange die traditionelle Praktik in Kraft bleibt, die einen Gemeinschaftsentzug und das Meiden derjenigen, die offen gewisse Blutbestandteile annehmen, diktiert, kann die medizinische Zunft im allgemeinen sich der Autonomie des Patienten nicht völlig gewiss sein. Ein Vertreter der WTG argumentierte in einem BBC-Interview damit, dass ein ZJ, der Blut erhält, niemals automatisch ausgeschlossen wird. Wenn er vor dem Rechtskomitee Bedauern und Reue zeigt, wird er nicht mit der härtesten religiösen Sanktion belegt werden. Es wurde auch behauptet, dass reuelose ZJ; die Blut erhalten, nicht deswegen ausgeschlossen werden, weil sie Blut erhalten haben, sondern weil sie die Doktrin der Wachtturm-Gesellschaft verworfen haben. 5 Dieses Argument kann allerdings nicht zur Unterstützung ihres öffentlichen Statements herangezogen werden, dass ZJ die Freiheit besitzen, Bluttransfusionen anzunehmen, da eine freie ausgeübte und aufrechterhaltene Entscheidung unweigerlich zu einem Gemeinschaftsentzug führt, der schärfsten religiösen Sanktion. Ob dies automatisch geschieht oder nicht und ob die Doktrin verworfen wurde oder nicht, sind bei der Frage des fundamentalen Rechts auf freie Wahl irrelevant; wenn als Endergebnis der Wahl ein Sanktion erfolgt, kann diese Wahl nicht frei erfolgen. Würden die WTG einem Land bescheinigen, dass dort ZJ die Freiheit haben zu predigen, wenn sie nach dem Predigen Bedauern und Reue bekunden müssten? Durch ihre Äußerungen und ihre religiöse Praxis seit der Verkündung dieser Doktrin 1945 wird es klar, dass die wirkliche Autonomie von ZJ-Patienten trotz des öffentlich bekundeten scheinbaren Respekts vor der freien Wahl des Mitglieds, wie sie in der Übereinkunft vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte zum Ausdruck kommt. 3 weiterhin durch die kontrollierende Autorität der WTG mit systematischem Druck und mit Sanktionen gefährdet wird.

Das Grundübel für die Gefährdung der Autonomie

Im zweiten Teil habe ich Fallstudien besprochen, bei denen auf Druck von seiten der Organisation Entscheidungen, die ZJ-Patienten in bezug auf blutgestützte Behandlungen getroffen hatten, geändert worden waren. Dieser Druck tritt in verschiedener Form auf. Die gängigste Situation ist die, dass Mitglieder von ZJ-Familien, Freunde und Versammlungsmitglieder sich um den Patienten versammeln und sorgfältig die medizinische Betreuung, die der Patient erhält, unter die Lupe nehmen. Selbst wenn es sich dabei nicht um ein absichtliches "Monitoring" handelt, ist der Gruppenzwang dennoch enorm. Eine weitere gängige Situation ist die Intervention durch das Krankenhaus-Verbindungskomitee, das gegründet wurde, um sich für die sogenannte "blutfreie" Medizin einzusetzen, und das aus Kirchenältesten besteht. Auch wenn dessen Hauptziel darin besteht, blutfreie Behandlungen zu erleichtern, so besuchen Mitglieder des Komitees auch ZJ-Patienten. Sie mögen dem Patienten "moralische Unterstützung" geben, aber gleichzeitig üben sie bereits durch ihre alleinige Anwesenheit einen enormen Einfluss aus. Es gibt Fallberichte, in denen ZJ-Patienten ihre frühere Entscheidungen geändert haben, nachdem sie von solchen Ältesten besucht worden waren. 7 Wenn der Patient aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, können Älteste nachfragen, welche Behandlungen sie erhalten haben. Selbst ohne solche Befragungen kann er sich verpflichtet fühlen, die Informationen freiwillig mitzuteilen, aus dem einfachen Grund, um sich von jedem Verdacht, dass er Blut erhalten haben könnte, zu befreien. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, einen beträchtlichen Druck zugunsten der Verweigerung blutgestützter Behandlungen auszuüben.

Diese Beobachtungen zeigen, dass das Grundübel für den von der Organisation ausgehenden Druck und für die gefährdete Autonomie der ZJ-Patienten eng mit der Verletzung der Privatsphäre des Patienten und der Vertraulichkeit, grundlegende Prinzipien der medizinischen Ethik, in Verbindung steht. Während ZJ im allgemeinen für sich Vertraulichkeit in persönlichen Angelegenheiten verlangen und sie auch beachten, besitzt die Vertraulichkeit innerhalb der religiösen Gemeinschaft keine hohe Priorität. Dies kam in einem 1987 veröffentlichten Artikel der WTG deutlich zum Ausdruck, in dem gelehrt wurde, vertrauliche Informationen in Krankenberichten von Mitgläubigen, die sich von der WTG nicht erlaubten medizinischen Behandlungen unterzogen hatten, weiterzugeben. 8 Während in der medizinischen Gemeinschaft und in der Gesellschaft im allgemeinen der Konsens darüber immer mehr wächst, dass die Vertraulichkeit der Patientendaten mehr denn je als hohes Gut zu bewerten ist, fehlt eine solche Haltung auffälligerweise in der Lehre der ZJ.

Eine mögliche Lösung mit Hilfe einer minimaler Veränderung der Praktik

Wie ich bereits im Teil 1 darlegte, haben ZJ eine Reihe von Lehränderungen vorgenommen, die für die Mitglieder potenziell lebenswichtige Fragen betrafen, einschließlich Impfungen und Organverpflanzungen. In dieser Hinsicht erscheint es immer möglich, dass die WTG ihre Blutpraxis aus ähnlichen Gründen in naher Zukunft verändert, wie es damals der Fall war, als sie das Impfverbot und das Verbot der Organverpflanzungen aufhob. Mr. Malyon scheint diese Möglichkeit ebenfalls zu unterstützen, wenn er von der "Bereitwilligkeit [der ZJ spricht], ihre Ansichten auf positive Art und Weise zu überdenken und zu korrigieren." 6 Die Möglichkeit existiert zwar, aber wenn man von den kürzlichen Aussagen der WTG zu diesem Thema ausgeht, es ist unwahrscheinlich, dass dies in naher Zukunft erfolgen wird. Mittlerweile erscheinen in verschiedenen Teilen der Erde weiterhin Berichte über ZJ, die aufgrund der Verweigerung lebensrettender blutgestützter Behandlungen vorzeitig zu Tode gekommen sind. Ist eine Modifikation der gegenwärtigen Praxis denkbar, die zum Schutz der Patienten-Autonomie dienen könnte und dadurch einigen unnötige Todesfälle aufgrund von Fehlinformationen und aufgrund des von der Organisation ausgeübten Drucks, eine lebensrettende Behandlung zu verweigern, vermeiden könnte?

In einem Versuch, diese zentrale Frage anzugehen, schlage ich hiermit vor, dass die kontrollierende Kirchenorganisation eine einfache Anweisung übernehmen sollte, die die Achtung vor einem der fundamentalsten Grundsätze der medizinischen Ethik, der Vertraulichkeit der Patientendaten, fördern könnte und dass sie diese Anweisung allen ZJ weltweit verkünden sollte. Wie aus dem vorhergehenden Abschnitt hervorgeht, entsteht der größte Zwang aus der Furcht vor einem Bruch der Vertraulichkeit der Patientendaten. Die folgende vorgeschlagene Anweisung konzentriert sich auf dieses Problem.

1. Jehovas Zeugen sollten ihre Krankenhauspatienten nicht fragen, welche Art der medizinischen Behandlung er oder sie erhalten haben. Sie sollten es unterlassen zu fragen, welche Art Unterredungen der Patient mit seinen Ärzten geführt hat. Die Leiter der Organisation sollten die Privatsphäre und die Vertraulichkeit mit höchster Priorität respektieren und es vermeiden, solche persönlichen Fragen zu stellen.

2. Ein ZJ-Patient sollte anderen ZJ und den Leitern der Versammlungen nicht mitteilen, welche Art der Behandlung sie erhalten haben, selbst wenn eine solches Gespräch nur beiläufig und in bester Absicht erfolgt. Er sollte ihnen gegenüber nicht enthüllen, welche Art Unterredungen er mit seinen Ärzten geführt hat. Die WTG sollte die Lehre von 1987 öffentlich zurückziehen, medizinisch vertrauliche Daten weiterzugeben. Sie sollte alle ZJ ermuntern, die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen dem Arzt und dem Patienten zu respektieren.

Parallel zu diesem Vorschlag sollte die Funktion des Krankenhaus-Verbindungskomitee auf das Mindestmaß beschränkt werden, das nötig ist, um den Ärzten und Patienten die notwendigen Informationen zu vermitteln; sie sollten sich nicht mehr in die Behandlung des einzelnen Patienten einmischen, außer wenn es vom Patienten oder dem Arzt ausdrücklich verlangt wird.

Im Wesentlichen schlage ich vor, dass ZJ-Patienten ihre persönliche medizinischen Informationen nicht weitergeben und dass die Kirchenorganisation und die Versammlungsleiter keine Fragen stellen, die in die Privatsphäre des Patienten und die Vertraulichkeit der medizinischen Fürsorge eindringen. Ich nenne dies ein Vorgehen nach dem Motto "Keine Fragen - keine Auskünfte" [don't-ask-don't-tell], indem ich diesen Ausdruck von einem ähnlichen Vorgang in der Armee der Vereinigten Staaten borge, die getroffen wurde, um Homosexuelle im Servicepersonal zu belassen, solange sie selbst nicht über ihre sexuelle Neigung reden, während die Armee ihrerseits auch nicht nachfragt.

Ein Präzedenzfall einer ähnlichen Vorgehensweise unter Jehovas Zeugen

Auch wenn dieser Vorschlag sowohl für die Dissidenten unter den Zeugen Jehovas, die eine grundlegende Reform der Blutdoktrin vorschlagen, als auch für die kontrollierende WTG ein Kompromiss zu sein scheint, so kann er der WTG doch einen gangbaren Alternativweg für die sonst notwendigen fundamentalen Lehrveränderungen anbieten, die eine weitverbreitete Verwirrung innerhalb der Religion verursachen könnten und die den Führen völlig unannehmbar sein mögen. Ob eine solche Modifikation der Blutdoktrin machbar ist und in das ganze System der ZJ-Religion eingebettet werden kann, hängt natürlich alleine von der Leitenden Körperschaft der Religionsgemeinschaft ab, die die absolute Autorität in Sachen Lehre und Lehrveränderungen hat. Diese Religion weist seit langem jeden ZJ auf ihre schriftgemäße Verantwortung hin, Missetäter ungeachtet der Folgen für sich selbst anzuzeigen. Achtung vor der Privatsphäre und der Vertraulichkeit zu propagieren, könnte als eine gravierende Abweichung von dieser Tradition erscheinen.

Wenn jedoch frühere Erfahrungen auf die zukünftige Entwicklung schließen lassen, erkennt man, dass die WTG einstmals eine ähnliche Vorgehensweise angewandt hat, die heute innerhalb der Gemeinschaft der ZJ immer noch in Kraft ist. Interessanterweise ging es bei dabei ähnlich wie bei der Praxis im US-Militär um das sexuelle Verhalten. 1972 entschied die WTG, dass verschiedene sexuelle Praktiken unter verheirateten ZJ eine Form von "Hurerei" sind. Insbesondere handelte es sich dabei um oralen und analen Sex. Sie wiesen darauf hin, dass ZJ sich selbst und ihren Ehepartner bei den Ältesten anzeigen müssten, wenn sie diese Spielart des Geschlechtsverkehrs durchgeführt hatten. Die Ältesten mussten jedem die Gemeinschaft entziehen, der sich weigerte zu bereuen. Das trug zu vielen zerbrochenen Ehen und juristischen Problemen bei. Zum Beispiel ließ sich eine ZJ-Frau von ihrem Nicht-ZJ-Ehemann scheiden, weil er auf seiner Forderung nach Oralsex beharrte, und der Ehemann verklagte die WTG aufgrund ungebührlichen Einflusses auf seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen. Die WTG revidierte diese Doktrin 1978 zum größten Teil, gab aber 1983 damals in ihrer offiziellen Zeitschrift eine explizite Verfahrensweise nach dem Motte "Keine Fragen - Keine Auskünfte" bekannt, die wie folgt gefasst war:

Was ist nun zur sexuellen Verhaltensweise von Verheirateten innerhalb der Ehe zu sagen? Es ist nicht die Aufgabe der Ältesten, in die Intimsphäre verheirateter Christen einzudringen. Doch die Bibel sollte ihr Leben bestimmt beeinflussen. Alle, die ‚beständig durch den Geist wandeln‘, dürfen die biblischen Hinweise auf Gottes Gedanken nicht außer acht lassen. Sie tun auch gut, alles zu lassen, was in den Augen Jehovas unrein ist. Dazu gehören alle offensichtlich perversen sexuellen Praktiken .... Wie bereits erwähnt, haben die Ältesten nicht die Aufgabe, die intimen Angelegenheiten der Ehepaare in der Versammlung zu "kontrollieren". Sollte aber von einem Angehörigen der Versammlung bekannt werden, dass er perverse sexuelle Handlungen innerhalb der Ehe vornimmt oder dafür offen eintritt, wäre er bestimmt nicht untadelig und käme deshalb für besondere Vorrechte, wie den Dienst eines Ältesten, eines Dienstamtgehilfen oder eines Pioniers, nicht in Frage. Die Ausübung und Befürwortung solcher Handlungen könnte sogar zum Ausschluss aus der Versammlung führen. 9

Wenn man diesen Präzedenzfall berücksichtigt, kann die WTG einen ähnlichen Artikel veröffentlichen, in dem sie ZJ instruiert, dass "die Ältesten nicht die Aufgabe haben, die privaten medizinischen Angelegenheiten der Glaubensbrüder und -schwestern in der Versammlung zu "kontrollieren". Sie können auch sagen, dass wenn "von einem Angehörigen der Versammlung bekannt werden sollte, dass er Blut erhalten hat oder öffentlich für Bluttransfusionen eintritt, er bestimmt nicht mehr untadelig wäre. Die Ausübung und Befürwortung solcher Handlungen könnte sogar zum Ausschluss aus der Versammlung führen." Diese Modifizierung würde wie im Fall der oben erwähnten Veränderung der Doktrin zur Hurerei keinen Kompromiss in ihrer fundamentalen Doktrin der Verweigerung von Blut bedeuten. Es ist durchaus verständlich, dass es in einer solchen geschlossenen religiösen Organisation ein System zur Meldung von "Übeltätern" geben muss; hier schlage ich jedoch eine Ausnahme für eine solche Meldung vor, wenn es um höchst private Angelegenheiten wie um die medizinische Behandlung in Krankenbetten oder um die Sexualpraktiken in Schlafzimmerbetten geht.

Das gemeinsame Ziel der Patienten-Autonomie und die Freiheit, Blut zu verweigern

Obwohl der Bergriff einer Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" ["don't-ask-don't-tell"] zuerst in der US-Armee für Homosexuelle geprägt wurde und sie somit in einer religiösen Gemeinschaft einen etwas negativen Beigeschmack haben mag, gibt es einen wichtigen Unterschied. Im Fall der US-Armee wurde sie im Bemühen eingeführt, die grundlegende anti-homosexuelle Haltung des US-Militärs aufrechtzuerhalten, während sie es gleichzeitig homosexuellem Servicepersonal ermöglichte, ihren Dienst fortzuführen, wenn sie ihre sexuelle Neigungen als Privatangelegenheit für sich behielten. Demnach wurde die Verfahrensweise als Kompromiss zwischen völlig entgegengesetzten Werten eingesetzt.

Im Gegensatz dazu ist das Ziel der gegenwärtigen Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" ["don't-ask-don't-tell"] bei der medizinischen Betreuung von ZJ-Patienten, die Patientenautonomie und die freie Wahl durch strikte Befolgung der Vertraulichkeit der Patienteninformation zu fördern, während die kontroverse Blutdoktrin beiseite gelassen wird. Es sollte dabei beachtet werden, dass die Achtung vor der Autonomie des Patienten und Entscheidungsfreiheit die Hauptsäule des Arguments der WTG ist, mit der sie die Praxis der Verweigerung von Blut rechtfertigt. Diese Haltung kommt symbolisch auch im Titel von Mr. Malyons neulichem Artikel 6 zum Ausdruck. In diesem Sinn sind die WTG und ZJ überzeugte Verteidiger des Rechts auf Selbstbestimmung, der Autonomie des Patienten. Deswegen kann das Ziel, die Patientenautonomie und freie Wahl des Patienten zu schützen, von keiner der beiden Parteien geleugnet werden, weder von der WTG, die öffentlich das Recht auf eine Verweigerung von Blut befürwortet, noch von reformgesinnten ZJ, die ihre persönliche Freiheit bei medizinischen Entscheidungsprozessen ausüben wollen, während sie gleichzeitig ihren guten Ruf als ZJ bewahren wollen. Dies sollte ein gemeinsames Ziel aller beteiligten Parteien sein, nicht gegensätzliche Werte, und somit ein erreichbares Ziel. Und wenn wirklich alle ZJ aus eigenem Antrieb Blut verweigern, dann gäbe es für die WTG nichts, worin sie durch die neue Verfahrensweise einen Kompromiss geschlossen hätte; sie würden ungeachtet der Vertraulichkeitsfrage weiterhin Blut verweigern. Andererseits hat die medizinische Gemeinschaft, wenn die WTG weiterhin für ZJ lehrt, medizinisch vertrauliche Informationen weiterzugeben 8 und "Übeltäter" zu melden, und dadurch diesen Vorschlag ignoriert, keine andere Wahl als daraus zu schließen, dass das öffentliche Eintreten der WTG für eine Patienten-Autonomie nur ein Trick ist und dass ihre wirkliche Absicht darin besteht abzusichern, dass alle Anhänger Bluttransfusionen ungeachtet ihrer persönlichen Entscheidungen verweigern.

Eine erweiterte Anwendung der Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte"

Diese Verfahrensweise kann auch auf verschiedene andere Situationen angewandt werden, in denen die Patientenautonomie und Entscheidungsfreiheit durch ein zufälliges Leck vertraulicher medizinischer Daten des Patienten gefährdet ist. Wo immer eine Gemeinschaft oder Gruppe in Bezug auf bestimmte medizinische Befunde ein intensives Werturteil hat, das so stark ist, dass keine Abweichung geduldet wird, kann eine Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" die Privatsphäre des Patienten und die Vertraulichkeit schützen, während das Werturteil unangefochten bestehen bleibt. Neben sexuellen Praktiken und sexueller Neigung, wie bereits erwähnt, kann die Verfahrensweise auch in einer Gemeinschaft angewandt werden, in der hochkontroverse Lehren wie z. B. zur Abtreibung oder zur Euthanasie, vorherrschen. Die Diagnose "Geisteskrankheit" trägt in bestimmten Gegenden der Erde (zum Beispiel in Japan) ein starkes Vorurteil, was viele Patienten dazu bringt, eine Konsultation mit einem Psychiater hinauszuzögern. Während es jahrelange Öffentlichkeitsarbeit erfordert, das zugrunde liegende gesellschaftliche Vorurteil abzubauen, könnten diese Psychiatriepatienten und ihre Familien von dem unangebrachten gesellschaftlichen Druck auch ohne dass das Vorurteil verschwindet befreit werden, wenn die Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" eingeführt würde.

Zusammenfassung

Während WTG-Vertreter einschließlich Mr. Malyon 6 und reformgesinnte ZJ nicht in den notwendigen Veränderungen der Kerndoktrin der Verweigerung von Blut übereinstimmen werden, so kann doch über einen fundamentalen sittlichen Wert Einigung erzielt werden: die Patientenautonomie, die Freiheit der Selbstbestimmung und höchstwahrscheinlich auch die Achtung vor der Privatsphäre des Patienten und die Vertraulichkeit, die als Grundlage für die Patientenautonomie erforderlich ist. Ich schlage hiermit vor, dass die kontrollierende Organisation, die WTG, ihre Anhänger ermuntert, die Verfahrensweise nach dem Motto "Keine Fragen - Keine Auskünfte" in Bezug auf die Einmischung der ZJ in medizinische Angelegenheiten zu überdenken. Die medizinische Gemeinschaft sollte auch die Führer dieser Religion ersuchen, die Achtung vor der Privatsphäre und der Vertraulichkeit unter den ZJ-Patienten zu fördern. Die aufrichtige Hoffnung des Autors ist, dass die Umsetzung dieser Veränderung in der WTG-Praxis wirkliche Autonomie und die freie Wahl der medizinischen Betreuung aller ZJ-Patienten sicherstellen wird.

Danksagung

Ich bedanke mich bei verschiedenen Mitgliedern der Vereinigung der Zeugen Jehovas für eine Reform in der Blutfrage (Associated Jehovah's Witnesses for Reform on Blood [AJWRB]) für wertvolle Diskussionen bei der Vorbereitung dieses Artikels. Bedauerlicherweise kann die Identität der gegenwärtigen Mitglieder der Religion aufgrund der Furcht vor Repressalien durch die WTG nicht öffentlich bekanntgegeben werden.

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Literatur und Anmerkungen

1. Muramoto O. Bioethik der Verweigerung von Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas: Teil 1. Sollten bei bioethischen Überlegungen die Ansichten von Kritikern berücksichtigt werden? J Med Ethics 1998;24:223-30. [zurück]

2. Muramoto O. Bioethik der Verweigerung von Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas: Teil 2. Ein neuer Ansatz, gestützt auf eine rationale Politik der Patientenbetreuung ohne Einmischung in seine Entscheidung [rational non-interventional paternalism]. J Med Ethics 1998;24:295-301. [zurück]

3. Muramoto O. Jehovah's Witnesses and blood transfusions. Lancet 1998; 352:824. Das ursprüngliche Dokument ist [in Englisch] unter folgender Adresse erhältlich: URL: http://194.250.50.201/eng/E276INFO.148.html.

Communique issued by the Secretary to the European Commission of Human Rights. INFORMATION NOTE No. 148 on the 276th Session of the European Commission of Human Rights. (Strasbourg, Monday 2 March - Friday 13 March 1998). Auf französisch ist der komplette Text erhältlich unter URL: http://194.250.50.201/eng/28626.28.html. [zurück]

4. Company Press Release PR Newswire April 27, 1998 and October 9, 1998. [zurück]

5. Transcript of interview with the Liberal Elder and Paul Gillies, spokesman for WTS, by Roger Bolton on Sunday, BBC Radio 4, on June 14, 1998. [zurück]

6. Malyon D. Transfusionsfreie Behandlung von Zeugen Jehovas: Respekt vor den autonomen Rechten der Patienten. J. Med Ethics 1998;24:302-7. [zurück]

7. Siehe Nr. 2: S. 296. [zurück]

8. Anonym. "Eine Zeit zum Reden - Wann? Der Wachtturm; 1987, 1. Sept., 12. Details siehe unter Nr. 1:225. [zurück]

9. Anonym. Ehre die Ehe als göttliche Einrichtung. Der Wachtturm, 1983 15. März, 30-31. [zurück]

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letzte Aktualisierung: 28. 12. 1999
Web-Adresse: http://geocities.datacellar.net/athens/ithaca/6236/ethik6.htm

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